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Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp erlebt habe

Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp erlebt habe

„Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“ Yousef wirkt außer sich, seine Augen wandern herum, er sagt, sein Kopf funktioniere nicht mehr und er habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Morgens um 6 sei er an der Uferpromenade im Wind herumgetigert, er finde einfach keine Ruhe.

Wir können uns sicher nur teilweise vorstellen, was Yousef in den vergangenen 12 Jahren erlebt haben muss, seit er als Teenager Syrien verlassen hat – gerade mal mit 12 Jahren – ohne Familie, allein und ohne zu wissen, wo der Weg ihn hinführen wird. Oder besser gesagt: die Schmuggler, in deren Hände er sein Leben gegeben haben muss. Denn legale Einreisemöglichkeiten nach Europa gibt es kaum, und alle Menschen, die wir auf den griechischen Inseln treffen, haben hiervon keinen Gebrauch machen können, alle sind mit dem Boot über das Meer aus der Türkei gekommen.

Trotzdem stellt sich uns die Frage: Was bringt ihn jetzt, in diesem Moment, so aus dem Gleichgewicht? Sicher die falsche Frage für Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben lange verloren haben. Gerade deshalb sind es jedoch oft die kleinen Anlässe, oder besser gesagt, für unsere Leben kleine Anlässe, die das gesamte System ins Wanken bringen. In Yousefs Fall ist es, dass sein Handy heruntergefallen und das Display so gebrochen ist, dass er es nicht mehr nutzen kann. Er sagt, er sei schuld daran, einzig und allein seine Schuld sei es, dass dies passiert sei.

55 Euro koste die Reparatur in einer NGO, die auch ein Repair-Café betreibt. Er zeigt uns den Inhalt seiner Taschen: 10,20 Euro. Und wir erinnern uns: Finanzielle oder eine andere Art von Unterstützung gibt es von der griechischen Regierung für anerkannte Flüchtlinge nicht. Arbeiten dürften sie – aber wo auf einer Insel wie Samos?

Das perfide ist: Yousef ist nicht nur nach vielen Jahre der Flucht, Ablehnung, des Wartens anerkannt worden, sondern er hatte tatsächlich schon einen Job. Einen bezahlten Job. Zwei Stunden von Athen entfernt, sagt er, auf einer Orangenplantage. Und: Es gab dort sogar eine Unterkunft für ihn. Doch die Behörden schickten ihn zurück nach Samos. Er müsse dort warten, bis sich seine Anerkennung auch in gültige Papiere umsetze, die er dort abholen müsse. So lange dürfe er nicht weiter, nicht runter von der Insel. Und Yousef wartet wieder …

Doch zurück zum zerstörten Handy. Yousef ist untröstlich, das Handy, sagt er, sei die einzige Möglichkeit, Kontakt mit seiner Familie zu halten. Seine kleine Schwester können sich sicher gar nicht mehr an ihn erinnern. Sie kennt ihn nur von verwackelten Skype-Telefonaten. Und auch die würde es jetzt nicht mehr geben. Immer wieder wiederholt er in gebrochenem Englisch: „Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“

Das Housing-Projekt von Space-Eye Hellas auf Samos hat einen klaren Fokus: Unterbringung und Versorgung mit dem Nötigsten. Und trotzdem sucht Uschi Wohlgefahrt auch für Dinge, die nicht in den engen Fokus passen, eine Lösung. Und im Fall von Yousefs Handy findet sie auch eine. Wir bringen das Handy gemeinsam weg. Er wirkt beruhigter. In zwei Tagen bekommt er es zurück. Er lächelt, steigt aus dem Auto aus und verschwindet in den kleinen Straßen der Hauptstadt. Er ist in der Männer-WG des Projektes mit anderen fünf Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern untergekommen. Jeweils zu dritt schlafen sie in einem Zimmer.

Tage später treffen wir ihn wieder. Mit dem reparierten Handy in der einen und dem griechischen Reisepass für Flüchtlinge in der anderen Hand! Er lächelt triumphierend. Sagt, er hätte die Fähre nach Athen bereits für den nächsten Tag gebucht. Die Plantage nimmt ihn trotz monatelanger Verzögerung wieder auf.

Als einer der wenigen anerkannten Flüchtlinge will Yousef Griechenland gar nicht verlassen. Die meisten wollen weiter, egal, ob das neue Probleme bedeutet oder nicht. Weil sie Familie in anderen Mitgliedsstaaten der EU haben. Weil Griechenland ihnen das Leben allzu schwer gemacht hat. Weil sie die Flucht hinter sich lassen und der immerwährenden Hoffnung auf den endgültig letzten Schritt in ein neues Leben näherkommen wollen.

Yousef will bleiben, sieht eine Zukunft für sich in Griechenland. Auch wenn wir aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen wissen, dass Arbeiten in Griechenland für Flüchtlinge ein großes Problem ist. Das Land hat die Finanzkrise nie wirklich überwunden, oft arbeiten Flüchtlinge illegal, für legale, langfristige Integration in den Arbeitsmarkt gibt es kaum Programm oder Unterstützung, dafür enorme Hürden. Und Hürden können Flüchtlinge nach allem, was sie durchgemacht haben, keine mehr ertragen. Deshalb lassen sie sich häufig auf dubiose Angebote ein. Wir wünschen uns so sehr, dass Yousef es anders antrifft.

Und als wir einen Abschiedskaffee zusammen trinken, wird er doch noch schwermütig. Bedankt sich für alles, was Uschi für ihn getan hat, sagt, das sei sein Anker gewesen, um nicht ganz unterzugehen. Sagt, er habe seine Familie 12 Jahre nicht mehr gesehen.

Und ohne näher darauf einzugehen, murmelt er immer wieder: „Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp auf Samos erlebt habe. Niemals.“

Belgien ist ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen

Belgien ist ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen

Asmaa ist eine junge Frau, eine sehr junge Frau sogar – sie ist nicht mal 20 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie – Ehemann, Sohn mit zwei Jahren und Tochter, acht Monate – von Uschi Wohlgefahrt Braun ins Housing-Projekt aufgenommen wird. Es ist ein Samstagabend, als Uschi, Gründerin von Space-Eye-Hellas, einen Anruf erhält: Zwei Erwachsene mit zwei Babys stünden auf einer Verkehrsinsel auf Samos Stadt und wirkten völlig orientierungslos.
Es ist also ein Samstagabend im Oktober und es ist nicht sehr warm. Die Familie, die aus dem Gaza-Streifen geflohen ist, hat einen positiven Entscheid zum Asylantrag bekommen. Wie viele Flüchtlinge aus Palästina mussten sie zum Glück nicht lange auf diese Entscheidung warten, nur ein paar Monate im Camp. Aber nun heißt es, auf die Papiere warten. Und das außerhalb des Camps.
Uschi fährt zur Verkehrsinsel und findet die Situation, wie vom Anrufer beschrieben. Der Vater sagt, er könne eine Wohnung bezahlen, er könne nur keine finden. Das Camp hätten sie verlassen müssen, denn sie seien jetzt ja anerkannte Flüchtlinge und sie könnten dorthin auch nicht zurück. Seitdem leben sie in einer Unterkunft von Space-Eye-Hellas auf Samos und erhalten Unterstützung zum Lebensunterhalt. Denn, ob sie sich wirklich selbst versorgen können, bezweifelt Uschi, nachdem sie sie näher kennengelernt hat.
Asmaa ist schwanger, das dritte Mal. Sie freut sich sehr auf das Baby, erzählt von den ersten beiden Schwangerschaften und dass sie gut verlaufen seien. Sie spielt mit den Kindern auf dem Boden des kleinen, einfachen Hauses, das ein Zimmer, eine Küche, ein Bad hat. Sie wirkt selbst wie ein junges Mädchen, wie sie so zierlich neben den beiden Kleinkindern sitzt und ihnen leise Sätze zuflüstert. Ihr Sohn lacht, er freut sich, dass Besuch gekommen ist, möchte am liebsten vor Energie platzen. Die Tochter wirkt sehr klein für ihre mittlerweile zehn Monate, große Augen im kleinen Gesichtchen.
Im Gaza-Streifen hätte es keine Zukunft gegeben. Sie sagt, sie hätten gewartet, bis die Kleine eine Chance auf Überleben auf der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer gehabt hätte und seien dann sofort los. Bomben und Schüsse, sagt sie, Tag und Nacht.
Für uns in der westlichen Welt ist es schwierig, den Überblick über den Konflikt im Gaza-Streifen zu behalten. Was wir vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wissen, ist, dass Menschen, die im Gaza-Streifen und im Westjordanland leben, werden trotz ihrer Zugehörigkeit zu den Palästinensischen Autonomiegebieten bis heute als Flüchtlinge geführt werden und zumeist faktisch staatenlos sind. Im Unterschied zu Flüchtlingen in anderen Konflikten vererbt sich bei Palästinensern der Flüchtlingsstatus über Generationen. Sehr viele Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten geflohen, vorwiegend in die Nachbarländer, aber auch nach Europa.
Wie viele Flüchtlinge ist Asmaa, wann immer möglich, in Kontakt mit der Familie in der früheren Heimat. Sie bekommt eine Sprachnachricht nach der anderen Informationen über die Situation vor Ort. Sie wirkt nervös, wie sie immer wieder zum Handy greift und die Nachrichten abhört. So, als sei sie nach wie vor dem Grauen direkt ausgesetzt.
Das Wetter ist mild, es ist ein schöner Samstag, als wir sie besuchen. Ob wir spazieren gehen, wollten mit den Kindern, fragen wir sie. Sie sagt, sie verlasse das Haus nur, wenn es nicht anders ginge. Wohin soll sie auch, sagt sie, sie sei hier in Sicherheit und draußen kenne sie niemanden.
Wie es für sie weitergehen solle, nach dem Warten auf die Ausweise, die das Verlassen der Insel ermöglichen. Sie antwortet, sie habe ein klares Ziel: Belgien! Warum Belgien, fragen wir, ob sie dort Verwandte oder Freunde hätte? Nein, das hier sei jetzt ihre einzige Familie, antwortet sie und zeigt auf die Kinder und ihren Mann. Aber Belgien, hätte sie von anderen Flüchtlingen gehört, sei ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen und großzuziehen. Inshallah, sagt sie.
Eines Tages ist sie abgereist, mit der ganzen Familie. Viel Glück im neuen Leben, Aasma!
Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Die Insel Samos ist eine Schönheit, und jetzt im zart beginnenden Frühling ohnehin: Sonne und Wind, wilde Orchideen, Olivenhaine, kleine Buchten und schroffe Felsen. Ein Paradies, nach dem viele Sehnsucht haben. Doch Samos kann zur Falle werden, der man jahrelang nicht entkommen wird – wenn man Pech hat, so wie Amir aus Afghanistan.

Vor vielen Jahren ist Amir mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, damals noch kleine Kinder, aus Afghanistan geflohen. Sicher hat die Familie viel erlebt, an das Amir aber nicht mehr erinnert werden will. Amir ist 38 Jahre alt, ein sehr schlanker, auf Anhieb sympathischer und sehr zurückhaltender Mann. Wann immer er im Projekt helfen kann, ist er dabei. Er spricht Farsi, lernt bei der letzten NGO, die so etwas anbietet auf der Insel, Englisch. Er hat den Wunsch, sich besser verständigen zu können, wenn er endlich sein Leben fortsetzen kann, woanders, nicht auf Samos.

Amir erging es wie vielen vor und vor allem nach ihm: vor mehr als fünf Jahren stand er mit seiner Familie an der Schwelle zu Europa, auf der türkischen Seite, wartete lange auf den Moment der Überfahrt, den die Schlepper bestimmen, nicht die Zahlenden. Und wie so oft wiederholt sich auch bei ihm die Geschichte: Die Schlepper werden nicht mit an Bord der kleinen, wackeligen Boote kommen, ihr Job endet hier, am Strand in der Türkei. Doch Misserfolge sind schlecht für das Geschäft, sie wollen an jemanden übergeben, der das Boot lenkt. Wenn sich jemand findet, der Erfahrung hat, ist das gut. Wenn nicht, ist es egal – es wird jemand nominiert. Das dauert nur Sekunden und eine Wahl gibt es nicht. Im Fall von Amirs Familie ist es Amir, den es trifft. Er hat keine Erfahrung mit Booten, weiß sicher nicht, was er machen soll und hofft einfach nur, dass sie alle gut auf der anderen Seite ankommen. Am Strand der nicht weit entfernten Insel Samos und damit in Griechenland.

Wir wissen nichts über die Überfahrt, ob es leicht war, ob es gefährlich war an diesem Tag. Was wir aber wissen ist, dass auf der anderen Seite nicht nur Europa wartete, sondern auch die Küstenwache. Und die war sehr daran interessiert, wer das Boot lenkte, denn in Griechenland gilt derjenige als der Schlepper und wird unter Anklage gestellt.

Seitdem, und das ist mittlerweile fünf Jahre her, wartet Amir. Auf ein Verfahren, einen Freispruch – Amir weiß es nicht genau. Seine Frau mit den Kindern ist vor Monaten weiter nach Deutschland gezogen. Amir kann das nicht, er darf die Insel nicht verlassen. Doch arbeiten oder Teil der griechischen Gesellschaft darf er auch nicht werden.

Space-Eye Hellas gibt Amir eine Unterkunft in einem kleinen Apartment mitten in der überschaubaren Hauptstadt der Insel. Er wäre sonst obdachlos und ohne Unterstützung von Space-Eye auch nicht in der Lage, für seinen täglichen Bedarf zu sorgen. Eine andere Organisation, die Vergleichbares tut, gibt es auf Samos nicht. Er wohnt in einem Zimmer mit einem anderen Flüchtling, der sein eigenes hartes Schicksal mit sich trägt. Die beiden schlagen sich durch zusammen – Freunde sind sie nicht, eher eine Art Notgemeinschaft mit gemeinsamer Küche.

Amir freut sich, hat sich sofort ein Heft gekauft. Er hat eine Möglichkeit gefunden, ein paar Brocken Deutsch mit einer Deutschen zu lernen. Denn auch, wenn alles unklar ist, sein Ziel hat er vor Augen: Deutschland, da wo seine Familie lebt. Wann auch immer das sein mag und wer auch immer es entscheiden wird …

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Uschi (Uschi Wohlgefahrt Braun) sagt, alles habe damit begonnen, dass sie aus privaten Gründen nach Samos kam, um zu bleiben. 2020 war das, mitten im Corona-Jahr. Sie hatte eine Wohnung gemietet, doch eingezogen ist sie dort nicht.
 
Denn direkt nach ihrer Ankunft hat sie eine junge Frau getroffen. Verzweifelt, Flüchtling, obdachlos. Kein Problem, sagt Uschi, sie kann bei ihr einziehen, sie finde für sich auch eine andere Lösung. Damit war, ohne dass Uschi es damals schon wusste, das Housing-Projekt Samos geboren. Es sollten später noch das Projekt in Athen und auf Lesbos dazukommen.
 
Immer mehr Menschen wenden sich an sie, weil sie das Camp nach der Anerkennung des Asylantrags verlassen müssen und nicht wissen wohin. Sie müssen auf ihren Pass warten, um weiterziehen zu können. Die griechische Regierung unterstützt sie als anerkannte Flüchtlinge allerdings nicht mehr – nicht mit finanziellen Mitteln, nicht mit Unterkunft.
 
Uschi ist keine, die großes Aufheben macht. Nicht um sich selbst und nicht um das, was sie jeden Tag ehrenamtlich tut. Zu den Hochzeiten der Flucht bietet sie über 100 Menschen auf Samos Unterschlupf und Versorgung mit dem Nötigsten. Uschi macht einfach. Immer wieder spricht sie den Leitsatz von Space-Eye, mit denen sie sich nach einiger Zeit mit ihrem Housing-Projekt zusammentut, aus: Handmade Humanity. Das ist, was für Uschi zählt.
 
Meist ist sie alleine unterwegs, wenn sie Glück hat, ist ein Volunteer für begrenzte Zeit gekommen, um sie zu unterstützen. Bei der Betreuung der Menschen, bei der Ausstattung der Wohnungen, beim Räumen von Wohnungen, wenn Menschen weitergezogen sind. Bei der Administration. Zu Uschi gehört ihr kleines, gelbes Auto, das mal zum Transportmittel für Wäscheberge wird, mal zum Verkehrsmittel, um Menschen aus dem neuen Camp in den Bergen abzuholen und zu der von Uschi angemieteten Unterkunft zu bringen.
 
„Mama Uschi“ nennen sie die Flüchtlinge. Und sicher ist sie das auch: Wie eine Mutter, die sich um die Menschen in Not sorgt, Unterstützung bietet, wo sie am dringendsten gebraucht wird, aber auch klare Regeln setzt. Dabei geht es nicht um Erziehung des Einzelnen, nicht mal um Integration in die griechische Gesellschaft, sondern um das Wohl aller und des Projektes. Denn die griechische Polizei beendet die Tätigkeit von Hilfsorganisationen sofort, wenn zum Beispiel nicht registrierte Flüchtlinge in den von ihr angemieteten Wohnungen unterschlüpfen. Und damit wäre nicht nur für die aktuellen Bewohner die Zufluchtsmöglichkeit beendet.
 
Aber das ist nicht die einzige Gefahr für das einzige Housing-Projekt auf Samos. Es gibt so viele Krisen auf dieser Welt, die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich ab und damit häufig auch das Interesse der Spender. Und auf Spenden ist das Projekt zu 100 % angewiesen. Staatliche Unterstützung gibt es nicht. Freilich geht es nicht darum, dass sich die Krisen Konkurrenz machen sollen. Vielmehr geht es darum, dass die Krise an der europäischen Außengrenze längst nicht beendet ist. Ob wir das in Deutschland und dem Rest der Welt wissen oder nicht.
 
Immer wieder wird sie von Menschen außerhalb von Griechenland gefragt: Kommen denn überhaupt noch Flüchtlinge? Man hört ja gar nichts mehr. Laut Aegean Boat Report waren es 2022 rund 11.500 Menschen, die mit kleinen, überfüllten Booten über das Meer auf die griechischen Inseln gekommen sind. Irregulär oder illegal, wie es heißt, denn eine legale Einreisemöglichkeit gibt es für kaum einen Flüchtling außerhalb der Ukraine nach Europa. 11.500 Menschen, die im Lager auch tatsächlich angekommen sind. Das ist die erste Stelle, wohin Menschen von der Küstenwache oder Polizei auf der Insel gebracht werden müssten. Um registriert zu werden, versorgt zu werden, in Quarantäne zu gehen und den Asylprozess zu starten. Im gleichen Zeitraum sind jedoch 26.133 Menschen nicht angekommen, sondern per Pushback – illegalen Pushbacks, die gegen die Menschenrechte verstoßen – zurück in die Türkei geschickt worden.
 
Bei Uschi im Projekt kommen die Menschen erst an, wenn sie den Asylprozess fast abgeschlossen haben. Bei fast allem Menschen, die sie betreut, wurde der Antrag anerkannt und sie warten auf ihre offiziellen Papiere, um die Insel verlassen zu können. Denn das wollen fast alle. Wie lange so ein Prozess dauern können, von Ankunft am Strand bis zum Ausweis, der den Schengenraum zumindest für Reisen öffnet? Uschi sagt, das wisse man nicht. Es ginge im letzten Jahr deutlich schneller. Oft hätten Menschen früher bis zu zwei Jahre auf die erste Anhörung im Camp warten müssen. Heute kann es in wenigen Monaten geschafft sein. Aber wie lange man dann ohne Unterstützung auf die Papiere warten müsse, ist für die Betroffenen und auch für Uschi offen. Das sei nicht vorhersehbar. Wochen, manchmal Monate, wenn es Probleme gibt, auch mal Jahre, in denen man die Insel nicht verlassen darf.
 

Uschi bekommt einen Anruf von MSF, der französischen Sektion der Ärzte ohne Grenzen, der letzten verbliebenen NGO, die Menschen kostenfrei medizinisch und manchmal, wenn Zeit ist, auch psychologisch versorgt. Denn: auch die NGOs sind weitergezogen oder haben sich aufgelöst. Waren es in 2016 rund 60, die auf der Insel für alles Mögliche gesorgt haben, sind es aktuell vielleicht noch 12. Inklusive Rechtsberatung und eben medizinischer Versorgung. Und Space-Eye-Hellas mit Uschis Housing-Projekt.

 

 
 
MSF ruft also an. Sie hätten einen besonders schwierigen Fall. Ob Uschi helfen könne. Eine Mutter mit einer Tochter im Teenageralter. Die jüngere Tochter hat die Überfahrt nicht überlebt. Sie fiel nahe dem rettenden Strand von Samos ins Wasser, wurde abgetrieben, ist ertrunken. Uschi setzt sich in Bewegung, sie muss eine Unterkunft für Mutter und Tochter finden, noch am gleichen Abend, sie sollen nicht länger im Camp bleiben. Dort waren sie einige Wochen nach dem schrecklichen Ereignis und haben auf die Anerkennung – wie alle anderen – warten müssen.
 
Ob Uschi manchmal erschöpft ist? Wir wissen es nicht, anzumerken ist es ihr nicht. Sie macht einfach, was sie für richtig hält. Zieht eine klare Grenze zwischen Gleichbehandlung, wo alle das Gleiche bekommen und Fairness, wo es darum geht, zu sehen, wer was nötig hat. Und Uschi achtet darauf, was nötig ist. Nicht immer ist es mit Geld zu besorgen. Aber oft eben schon. Das Budget ist eng bemessen, Uschi haushaltet mit klarem Verstand und unfassbar gutem Überblick. Sie weiß, wie man mit wenig auskommt und Löcher stopft.
 
Was sie frustriert? Das sich nichts wirklich geändert hat über all die Jahre. Menschen kommen und gehen, sitzen in Camps unter fragwürdigen Umständen fest und wissen danach auch nicht wirklich weiter. Ob sie darüber nachdenkt aufzugeben? Nein, Aufgeben ist nicht Uschis Ding. Zu viele werden auch in der Zukunft auf sie angewiesen sein. Auf ihre Hilfe, ihren Pragmatismus und ihre Menschlichkeit. Und für jeden Einzelnen wird es einen Unterschied machen, sie kennengelernt zu haben.
 
Das Housing-Projekt soll weitergehen! Sie möchten Space-Eye-Hellas unterstützen?

“We deal with the pain”

“We deal with the pain”

Von Martina Günther (Januar 2023)

Wie soll man beschreiben, wie es ist im Camp Moria 2.0 auf Lesbos zu arbeiten? Aktuell arbeite ich gerade im Container von Earth Medicine. Der Container steht erhöht oberhalb, man hat also einen guten Überblick über das Geschehen dort unten. Wenn es nicht gerade aus Kübeln regnet, sieht es in der Wintersonne fast harmlos aus.

Es sind viele neue Menschen angekommen. Die Härte der Flucht zeigt sich durch einen bei allen ähnlichen Symptomenkomplex. Als Erstes der Schmerz: im Rücken, in den Gelenken, häufig nach Überanstrengung und Stürzen, auch Kopfschmerzen. Magenschmerz meist durch Fehlernährung, Kraftlosigkeit und Erschöpfung.

„We deal with the pain“. Dieser Satz ist in einem der vielen Gespräche gefallen, die Fabiola Velasquez von Earth Medicine führt. Der Weg zum Container ist kurz, es kommen viele Menschen vorbei mit ihren Anliegen. Es wird geklärt, was zu tun ist. Zuzuhören und zu erklären, wer wie weiterhelfen könnte, kostet jedes Mal Kraft und Zeit.

„We deal with the pain“ meint, dass das therapeutische Angebot von Physiotherapie, Akupunktur bis hin zu Homöopathie genau dort ansetzt. Die Gespräche oder besser Konsultationen dienen dem Zweck, einen Therapieplan aufzustellen und herauszufinden, wer intensivere Betreuung benötigt. Es wird im Container gearbeitet, aber auch im „Office“ – der Praxis – in Mytilini. Dort werden die Patienten behandelt, mit Essen, netter Gesellschaft und Gesprächen versorgt. Natürlich sind die Ressourcen knapp. Auch sie bestimmen darüber, wer behandelt werden kann.

Was Fabiola durch ihr Arbeitspensum möglich macht, ist enorm, aber es braucht unbedingt auch den finanziellen Hintergrund. Die Spenden von Space-Eye und jedem anderen Spender sind herzlich willkommen. Ein Dankeschön an jeden, der diese Arbeit so unterstützt.

In dieser Woche habe ich gelernt, dass ein Gewehrkolben ein präzises Schlaginstrument ist, um Knochen zu brechen: Wirbelkörper, Hände, Füße, Rippen. Es ist nicht harmlos dort unten.

Solche Gespräche sind schwierig. Manchmal erwischt es uns auch. Die zugewandte therapeutische Stabilität bekommt Risse und man muss sich kurz sammeln, um weitermachen zu können. Aber zu sehen, dass ein Vertrauen entsteht, das sich in einer Umarmung ausdrückt, oder im Halten einer Hand, einem Blick vielleicht nur, ist Trost und Hoffnung für alle Beteiligten.

Die Autorin Martina Günther

Der Behandlungscontainer von Earth Medicine auf Lesbos (Fotos: Martina Günther)

Kriegsversehrte aus der Ukraine bei Space-Eye

Kriegsversehrte aus der Ukraine bei Space-Eye

Ein Mann mit nacktem Oberkörper steht in einem gefliesten Raum mit gesenktem Kopf vor einem Spiegel. Ihm fehlt der linke Arm.

Die Folgen des Ukrainekriegs spürt Yurij Sukhotin am eigenen Leib. Durch einen Raketenbeschuss wurde ihm der Arm weggerissen.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Eine Hand hält ein Mobiltelefon, auf dessen Bildschirm zu sehen ist ein Foto, das einen verletzten Mann mit blutüberströmten Gesicht zeigt.

Ihor war auf dem Weg an die Front, als er in einen Hinterhalt geriet und beschossen wurde. Das Foto zeigt ihn verletzt nach dem Angriff.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Ein Mann sitzt an einem Tisch, vor ihm steht eine Frau und gestikuliert erklärend mit den Händen, im Hintergrund Blätter aus Papier an der Wand mit kurzen deutschen Phrasen.

Yurij Sukhotin beim Deutsch-Unterricht, den Space-Eye für ukrainische Flüchtlinge organisiert hat.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Ein Mann sitzt vornübergebeugt auf einer Liege, eine zweite Person umfasst seinen linken Fuß zur Behandlung.

Ihor Zubritzskyi bei der Physiotherapie: Der 38-jährige Berufssoldat will, sobald es geht, zurück in die Ukraine zu seinen Kameraden.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

Ukrainische Verwundete in Bayern: Den Krieg vor Augen

Verbrannte Gesichter, zerfetzte Arme und Beine: Seit Kriegsbeginn wurden und werden in bayerischen Krankenhäusern 87 ukrainische Verwundete behandelt. Doch auch nach dem Klinikaufenthalt sind die Betroffenen auf Hilfe angewiesen.

Von Sebastian Grosser (BR)

 
Wenn Yurij Sukhotin seinen Körper im Spiegel betrachtet, sieht er die Folgen des Ukraine-Kriegs. Dem 27-Jährigen fehlt der linke Arm. Durch einen Raketenbeschuss wurde er ihm weggerissen, als er Ende April in Luhansk in der umkämpften Ostukraine eingesetzt war. Dort, wo einmal sein linker Arm war, prangt jetzt eine frische Narbe. Mehrere Operationen hat Yurij hinter sich, unter anderem auch in Bayern. Seit gut vier Monaten lebt er mit seiner Familie in Regensburg, in einem Haus der Hilfsorganisation Space-Eye. Doch mit den Gedanken ist der Berufssoldat immer noch in der Ukraine. „Ich beobachte die Situation in der Ukraine pausenlos. Ich telefoniere, schaue Nachrichten, versuche irgendwie einen Überblick zu behalten.“ Auch wenn Yurij wohl keine Waffe mehr halten können wird, der Krieg lässt ihn nicht los. „Ich habe einen Eid geschworen auf die Ukraine und das ukrainische Volk. Es ist eine schwierige Situation für mich, denn ich möchte was tun.“
 
 

Kriegsverwundete in deutschen Krankenhäusern

Das Schicksal von Yurij Sukhotin teilen viele Soldaten, die derzeit in Deutschland behandelt werden. Allein in Regensburg sind es 13 Kriegsverletzte. Ein Teil davon wurde oder wird noch an der Regensburger Uniklinik behandelt. So auch Ihor Zubritzskyi. Er sitzt auf seinem Krankenbett in der Station für Unfallchirurgie. Es ist die letzte Visite, bevor der Soldat entlassen wird. „Im Moment sieht alles sehr gut aus. Die Wunden sind gut verheilt. Sie sind ja auch noch ein junger Mann. Das wird gut“, bewertet Chefarzt Volker Alt die Verletzung am Bein, ausgelöst durch einen Schuss. Ihor war auf dem Weg an die Front in der Nähe von Donezk, als er in einen Hinterhalt geriet und beschossen wurde. Neben seinem Bein wurde auch ein Benzinkanister getroffen. Ihor konnte aus dem Auto springen und sich in einen Graben retten, wo er mehrere Tage verbrachte, blutüberströmt und mit Verbrennungen im Gesicht.

 
 

Kriegsverletzungen: Wundinfektionen bis Amputationen

Die Wunden sind inzwischen gut verheilt. Nur um sein Kniegelenk muss Ihor noch eine Vorrichtung aus mehrere Stäben tragen, die das Gelenk in der richtigen Position hält. Nach seiner Ankunft in der Uniklinik war es den Ärzten vorerst wichtig, eine Infektion zu verhindern. Denn Wundinfektionen sind bei Kriegsverletzungen nicht selten, sagt Unfallchirurg Alt. „Das Perfide daran ist, dass durch Projektile oder Granatsplitter Bakterien in den Körper eintreten, die dann schwere Wundinfektionen hervorrufen können. Unbehandelt führt das oft zu einer Blutvergiftung und im schlimmsten Fall bleibt als einzige Möglichkeit nur die Amputation.“

Ukrainische Kliniken: Mangel an Ressourcen

Wie langwierig die Behandlung einer Wundinfektion sein kann, sieht man ein paar Zimmer weiter. Hier lebt ein ukrainischer Soldat schon mehrere Monate. Der Mann, der bereits vor dem Ukraine-Krieg im Donbas gekämpft hat, hat zudem multiresistente Keime in seinem Körper. Nur mit Kittel und Handschuhen darf man den Raum betreten. Alt glaubt nicht, dass der Mann in der Ukraine unprofessionell behandelt wurde.

„Die ersten Operationen in den Krankenhäusern und von den Kollegen in der Ukraine sind chirurgisch sauber gemacht. Aber natürlich mit limitieren Ressourcen.“ Prof. Volker Alt, Unfallchirurgie Uniklinik Regensburg

In Regensburg sei man auf solche Fälle spezialisiert. Eine Luxussituation, von der auch die ukrainischen Verwundeten profitieren sollen.

EU: Über 500 Patiententransporte aus Ukraine

Laut dem Bundesgesundheitsministerium hat Deutschland die meisten ukrainischen Kriegsverletzten aufgenommen. „Dabei wird nicht zwischen militärischen und zivilen Kriegsverletzten unterschieden“, so eine Pressesprecherin auf BR-Anfrage. Daher könne die genaue Anzahl der ukrainischen Soldaten, die sich in Deutschland und Bayern in Behandlung befinden, nicht beziffert werden. Das Bayerische Innenministerium spricht von über 500 ukrainischen Kriegsverletzten in Deutschland, 87 davon wurden in bayerischen Krankenhäusern aufgenommen. Ein Großteil der Kosten für den Transport übernimmt die Europäische Union. Die Kosten für Behandlung oder zum Beispiel für Prothesen in Deutschland werden seit Juni von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, sofern die Verwundeten bei der Ausländerbehörde registriert sind.

 

Nach Klinikaufenthalt: Hilfe für den Alltag gefragt

Zurück im Wohngebäude der Hilfsorganisation Space-Eye. In einem kleinen Raum im Erdgeschoss befinden sich zwei Tischreihen und eine Tafel, auf der verschiedene Gemüsesorten stehen. In der ersten Reihe sitzt Yurij Sukhotin. Der Berufssoldat versucht das Beste aus seiner Situation zu machen. Er hilft selbst neuen Flüchtlingen, erledigt Arbeiten, trotz seines Handicaps. Daneben nimmt er Deutsch-Unterricht, den Space-Eye für ukrainische Flüchtlinge organisiert hat. Im Nebenraum gibt es sogar ein Kinderzimmer, damit auch Mütter das Angebot wahrnehmen können, erklärt die ehrenamtliche Helferin Christiane Lederer.

„Der Krieg ist ein Angriff auf unsere Werte. Und daher war vom erstem Moment ein inneres Gefühl da: Ich muss hier was tun, was ich tun kann.“ Christiane Lederer, Space-Eye Regensburg

Bei Space-Eye kümmert sich die 40-Jährige um die ukrainischen Flüchtlinge – neben ihrem Fulltime-Job. „Das Ganze ist schon ein Spannungsfeld, das alles mit Partnerschaft und Familie in Einklang zu bringen. Die Familie steckt da entsprechend zurück.“ Doch der Angriffskrieg habe ihr keine Wahl gelassen.

Ehrenamtliche Helfer: Krieg kommt näher als gewollt

Wie bedeutend die Hilfe von Christiane Lederer für die ukrainischen Verwundeten und ihre Familien ist, zeigt sich in einem einzelnen Moment. Als sie die Drei-Zimmer-Wohnung der Familie Sukhotin betritt, stürmt Yurijs Tochter auf die 40-Jährige zu und klammert sich innig um ihren Hals. Das Mädchen wird Lederer während des ganzen Besuchs nicht mehr loslassen. Wie der Krieg auch Lederer nicht. Er ist ihr sehr nah. Helfer wie Lederer bekommen viel zu sehen, vor allem Fotos und Videos aus dem Krieg. Am Anfang sei das schon verstörend gewesen, sagt ein Übersetzer. „Aber man stumpft ab.“ Inzwischen könne er die schrecklichsten Videos sehen und nebenbei sein Müsli essen.

 
 

Verwundete Soldaten: Zurück an die Front?

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ist auch Ihor Zubritzskyi in dem Wohnkomplex am Rande der Regensburger Altstadt untergekommen. Christiane Lederer besucht ihn regelmäßig. Sie organisiert für ihn Arztbesuche oder die Physiotherapie, damit der 38-Jährige bald wieder ohne Krücken laufen kann. Ihor weiß die Hilfe sehr zu schätzen, auch wenn er sie nur so lang wie nötig in Anspruch nehmen möchte. Ihor will zurück in die Ukraine, zurück zu seinen Kameraden, die gerade in der Region Cherson kämpfen.

„Ich bin ihr Kommandeur. Selbst wenn ich hier bin, will ich ihnen helfen. Sie sind wie Brüder für mich.“ Ihor Zubritzskyi, verwundeter ukrainischer Soldat

Mit seiner Hand streicht Ihor über sein Handy. Ein Video geht los. Darauf zu sehen sind er und seine Kameraden in einem Transporter. Ihor deutet auf ein, zwei Personen. „Tot. Gefallen.“