fbpx

„Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“ Yousef wirkt außer sich, seine Augen wandern herum, er sagt, sein Kopf funktioniere nicht mehr und er habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Morgens um 6 sei er an der Uferpromenade im Wind herumgetigert, er finde einfach keine Ruhe.

Wir können uns sicher nur teilweise vorstellen, was Yousef in den vergangenen 12 Jahren erlebt haben muss, seit er als Teenager Syrien verlassen hat – gerade mal mit 12 Jahren – ohne Familie, allein und ohne zu wissen, wo der Weg ihn hinführen wird. Oder besser gesagt: die Schmuggler, in deren Hände er sein Leben gegeben haben muss. Denn legale Einreisemöglichkeiten nach Europa gibt es kaum, und alle Menschen, die wir auf den griechischen Inseln treffen, haben hiervon keinen Gebrauch machen können, alle sind mit dem Boot über das Meer aus der Türkei gekommen.

Trotzdem stellt sich uns die Frage: Was bringt ihn jetzt, in diesem Moment, so aus dem Gleichgewicht? Sicher die falsche Frage für Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben lange verloren haben. Gerade deshalb sind es jedoch oft die kleinen Anlässe, oder besser gesagt, für unsere Leben kleine Anlässe, die das gesamte System ins Wanken bringen. In Yousefs Fall ist es, dass sein Handy heruntergefallen und das Display so gebrochen ist, dass er es nicht mehr nutzen kann. Er sagt, er sei schuld daran, einzig und allein seine Schuld sei es, dass dies passiert sei.

55 Euro koste die Reparatur in einer NGO, die auch ein Repair-Café betreibt. Er zeigt uns den Inhalt seiner Taschen: 10,20 Euro. Und wir erinnern uns: Finanzielle oder eine andere Art von Unterstützung gibt es von der griechischen Regierung für anerkannte Flüchtlinge nicht. Arbeiten dürften sie – aber wo auf einer Insel wie Samos?

Das perfide ist: Yousef ist nicht nur nach vielen Jahre der Flucht, Ablehnung, des Wartens anerkannt worden, sondern er hatte tatsächlich schon einen Job. Einen bezahlten Job. Zwei Stunden von Athen entfernt, sagt er, auf einer Orangenplantage. Und: Es gab dort sogar eine Unterkunft für ihn. Doch die Behörden schickten ihn zurück nach Samos. Er müsse dort warten, bis sich seine Anerkennung auch in gültige Papiere umsetze, die er dort abholen müsse. So lange dürfe er nicht weiter, nicht runter von der Insel. Und Yousef wartet wieder …

Doch zurück zum zerstörten Handy. Yousef ist untröstlich, das Handy, sagt er, sei die einzige Möglichkeit, Kontakt mit seiner Familie zu halten. Seine kleine Schwester können sich sicher gar nicht mehr an ihn erinnern. Sie kennt ihn nur von verwackelten Skype-Telefonaten. Und auch die würde es jetzt nicht mehr geben. Immer wieder wiederholt er in gebrochenem Englisch: „Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“

Das Housing-Projekt von Space-Eye Hellas auf Samos hat einen klaren Fokus: Unterbringung und Versorgung mit dem Nötigsten. Und trotzdem sucht Uschi Wohlgefahrt auch für Dinge, die nicht in den engen Fokus passen, eine Lösung. Und im Fall von Yousefs Handy findet sie auch eine. Wir bringen das Handy gemeinsam weg. Er wirkt beruhigter. In zwei Tagen bekommt er es zurück. Er lächelt, steigt aus dem Auto aus und verschwindet in den kleinen Straßen der Hauptstadt. Er ist in der Männer-WG des Projektes mit anderen fünf Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern untergekommen. Jeweils zu dritt schlafen sie in einem Zimmer.

Tage später treffen wir ihn wieder. Mit dem reparierten Handy in der einen und dem griechischen Reisepass für Flüchtlinge in der anderen Hand! Er lächelt triumphierend. Sagt, er hätte die Fähre nach Athen bereits für den nächsten Tag gebucht. Die Plantage nimmt ihn trotz monatelanger Verzögerung wieder auf.

Als einer der wenigen anerkannten Flüchtlinge will Yousef Griechenland gar nicht verlassen. Die meisten wollen weiter, egal, ob das neue Probleme bedeutet oder nicht. Weil sie Familie in anderen Mitgliedsstaaten der EU haben. Weil Griechenland ihnen das Leben allzu schwer gemacht hat. Weil sie die Flucht hinter sich lassen und der immerwährenden Hoffnung auf den endgültig letzten Schritt in ein neues Leben näherkommen wollen.

Yousef will bleiben, sieht eine Zukunft für sich in Griechenland. Auch wenn wir aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen wissen, dass Arbeiten in Griechenland für Flüchtlinge ein großes Problem ist. Das Land hat die Finanzkrise nie wirklich überwunden, oft arbeiten Flüchtlinge illegal, für legale, langfristige Integration in den Arbeitsmarkt gibt es kaum Programm oder Unterstützung, dafür enorme Hürden. Und Hürden können Flüchtlinge nach allem, was sie durchgemacht haben, keine mehr ertragen. Deshalb lassen sie sich häufig auf dubiose Angebote ein. Wir wünschen uns so sehr, dass Yousef es anders antrifft.

Und als wir einen Abschiedskaffee zusammen trinken, wird er doch noch schwermütig. Bedankt sich für alles, was Uschi für ihn getan hat, sagt, das sei sein Anker gewesen, um nicht ganz unterzugehen. Sagt, er habe seine Familie 12 Jahre nicht mehr gesehen.

Und ohne näher darauf einzugehen, murmelt er immer wieder: „Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp auf Samos erlebt habe. Niemals.“