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Flüchtlingslager sind kein Ort zum Leben

Wir nehmen Euch mit ins Jahr 2021. Wir laufen und klettern über Gestrüpp und Steinschutt den Berg hinauf. Milad ist 18 Jahre alt und erzählt uns auf dem Weg zum Lagerplatz seiner Familie etwas über sich und seine Familie. Sie leben bereits seit zwei Jahren in dem Lager, das sich in direkter Nähe zu der kleinen Hauptstadt der Insel Samos befindet. Schaut man von einem höheren Punkt von gegenüber auf das Lager, fällt es dem Auge schwer zu erfassen, was es sieht: eine unübersichtliche Anzahl von Baracken, Zelten, dürftig zusammen genagelten Hütten zieht sich den steilen Hang hinauf, dazwischen ein Zaun mit Maschendraht. Es scheint keine Struktur zu geben und zwischen den Hütten wimmeln Menschen herum.

Angelegt war der Kern des Lagers für 650 Menschen, in Hochzeiten sind es rund 8.000, die hier leben. Hier leben müssen. Denn verlassen dürfen sie die Insel nicht bevor ihr Asylverfahren positiv beschieden wurde und die Papiere erstellt sind. Und dass kann bei einer Ankunft in 2018 oder 2019 Jahre dauern. Jahre bis zur ersten Anhörung.

Auch Milads Familie wohnt im sogenannten Dschungel, dem nicht offiziellen Lagerbereich, in einem Konstrukt aus Pfählen und Planen, gebaut auf Stelzen, um dem Schlamm, der sich im Winter oder bei Regen bildet, etwas entkommen zu können. So gut es geht haben Sie sich den Bereich eingerichtet, mit alten Teppichen auf dem Boden, und sogar einer Glühbirne im Schlafbereich, betrieben von einer Solarzelle, die irgendjemand gespendet hat. Seine Mutter und seine Schwestern kochen draußen und spülen das Geschirr mit Wasser aus einer Regentonne. Fließendes Wasser oder Strom gibt es nicht. Wir können uns nicht vorstellen, was aus diesem Ort nachts wird, wenn das Tageslicht fehlt. Die Toiletten, sagen die Menschen, die Toiletten sind dann das Schlimmste.

Milads Familie ist gastfreundlich, freut sich, dass wir gekommen sind. Milads Mutter kocht uns Chai, hat Plastikstühle besorgt, auf denen wir sitzen können. Die Familie wird bald in eine Wohnung von Space-Eye Hellas umziehen. Anders als die anderen Lagerbewohner, zumindest anders als für einen Großteil von ihnen. Denn das neue Lager in den Bergen ist Mitte September 2021 bezugsfertig. Fertig war es eigentlich schon lange, aber irgendwie gab es Probleme mit der Wasserversorgung für mehrere Tausend Menschen, die hier untergebracht werden sollen. Und dieses Lager soll die Blaupause für die anderen Hotspots auf den griechischen Inseln werden.

Wir springen in die Gegenwart. Es ist 2023, das neue Lager ist seit ungefähr 1,5 Jahren geöffnet. Es heißt: CCAC – Closed Controlled Access Center. Vieles erscheint auf den ersten Blick besser. Es gibt Container, keine Zelte oder zusammen gezimmerte Hütten mehr. Die Container können geheizt werden, drinnen gibt es wenig, aber zumindest ein Bett für jeden. Die Struktur ist klar, es gibt Wege und offene Plätze, sogar einen Sportplatz. Die Sanitäranlagen werden oft gereinigt.

Und doch ist das neue Lager erschreckend anzusehen. Natürlich waren wir nicht drin. Niemand darf aktuell hinein. Niemand außer dem Sicherheitspersonal und den Flüchtlingen, die hier leben müssen. Wir sind mitten in den Bergen, ungefähr zwei Stunden Fußmarsch von der Stadt entfernt. Es gibt einen hohen Zaun mit Stacheldraht, Sicherheitsschleusen, kein Baum, kein Grün. Und es gibt nichts zu tun, nichts außer Warten. Irgendwann kann man über einen der riesigen Lautsprecher ausgerufen werden. Denn Termine gibt es nicht oder man erfährt sie nicht. Und wenn man dann nicht da ist? Denn tagsüber darf man das Camp verlassen, wenn man nicht ganz neu hier ist. Dann heißt es weiter warten, auf die nächsten Slot, wann immer der sein mag.

Die Sicherheit hat zugenommen, sagt uns eine junge Frau, die im alten und neuen Camp leben musste. Die Sicherheit gegenüber Menschen, die nachts ausrasten oder von außen kommen, um zu randalieren. Aber die Gewalt von offiziellen Stellen ist unberechenbar geworden. Sie kommen, wann sie wollen, sagt die junge Frau, und sie sind aggressiv, machen uns schreckliche Angst, schlagen die Männer und drohen uns, mit uns Frauen das Gleiche zu tun, wenn wir schreien. Die NGO „I have rights“ hat diese Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Passiert ist bisher nichts.

Der Asylprozess hat sich verbessert, ist viel schneller geworden. Für die meisten zumindest. Aber wenn der Antrag einmal positiv entschieden ist, muss man das Camp verlassen – und erhält keine Unterstützung mehr, nicht in Bezug auf eine Unterkunft und auch nicht für das tägliche Überleben. Gerade deshalb ist das Housingprojekt von Space Eye Hellas so wichtig. „Ich hätte nicht gewusst wohin“, sagt die junge Frau, „ich hätte auf der Straße oder in Abrissgebäuden schlafen müssen und aus Mülltonnen leben“. Viele ziehen weiter nach ihrem Asylbescheid, gehen auf das Festland, versuchen sich zu Freunden und Verwandten durchzuschlagen. Aber nicht so selten gibt es Probleme: nicht alle Familienmitglieder erhalten gleichzeitig Schutz, nicht alle Papiere sind zusammen, um auch die Reiseunterlagen zu erhalten und nicht zu vergessen: es entsteht eine zeitliche Lücke zwischen dem Bescheid, dem gezwungenermaßen veranlassten Verlassen des Camps und der Aushändigung der Papiere. Das können ein paar Wochen sein, es können aber auch Monate sein. Und Arbeit ist rar auf der Insel, außerhalb der Saison quasi nicht vorhanden.

Ja, vieles erscheint auf den ersten und zweiten Blick deutlich geordneter, aber ein Gefängnis bleibt es, das neue Lager auf Samos. Und das vergleichbare Lager auf Lesbos ist auch schon fertig gestellt. Nur dass es auch hier ein Problem gibt: die Wasserversorgung.

Das Projekt darf nicht enden! Sie möchten Space Eye Hellas unterstützen?

https://www.betterplace.org/de/projects/108378-health-network

https://space-eye.org/hellas

Dokumentation von der Deutschen Welle, 2021 zum Umzug ins neue Camp auf Samos:

https://www.dw.com/de/das-neue-fl%C3%BCchtlingslager-auf-samos-eine-kleinstadt-hinter-stacheldraht/a-59265243

Film Space-Eye vom alten Camp auf Samos:

https://www.youtube.com/watch?v=sSESfahLOsg&t=5s