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Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Die Insel Samos ist eine Schönheit, und jetzt im zart beginnenden Frühling ohnehin: Sonne und Wind, wilde Orchideen, Olivenhaine, kleine Buchten und schroffe Felsen. Ein Paradies, nach dem viele Sehnsucht haben. Doch Samos kann zur Falle werden, der man jahrelang nicht entkommen wird – wenn man Pech hat, so wie Amir aus Afghanistan.

Vor vielen Jahren ist Amir mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, damals noch kleine Kinder, aus Afghanistan geflohen. Sicher hat die Familie viel erlebt, an das Amir aber nicht mehr erinnert werden will. Amir ist 38 Jahre alt, ein sehr schlanker, auf Anhieb sympathischer und sehr zurückhaltender Mann. Wann immer er im Projekt helfen kann, ist er dabei. Er spricht Farsi, lernt bei der letzten NGO, die so etwas anbietet auf der Insel, Englisch. Er hat den Wunsch, sich besser verständigen zu können, wenn er endlich sein Leben fortsetzen kann, woanders, nicht auf Samos.

Amir erging es wie vielen vor und vor allem nach ihm: vor mehr als fünf Jahren stand er mit seiner Familie an der Schwelle zu Europa, auf der türkischen Seite, wartete lange auf den Moment der Überfahrt, den die Schlepper bestimmen, nicht die Zahlenden. Und wie so oft wiederholt sich auch bei ihm die Geschichte: Die Schlepper werden nicht mit an Bord der kleinen, wackeligen Boote kommen, ihr Job endet hier, am Strand in der Türkei. Doch Misserfolge sind schlecht für das Geschäft, sie wollen an jemanden übergeben, der das Boot lenkt. Wenn sich jemand findet, der Erfahrung hat, ist das gut. Wenn nicht, ist es egal – es wird jemand nominiert. Das dauert nur Sekunden und eine Wahl gibt es nicht. Im Fall von Amirs Familie ist es Amir, den es trifft. Er hat keine Erfahrung mit Booten, weiß sicher nicht, was er machen soll und hofft einfach nur, dass sie alle gut auf der anderen Seite ankommen. Am Strand der nicht weit entfernten Insel Samos und damit in Griechenland.

Wir wissen nichts über die Überfahrt, ob es leicht war, ob es gefährlich war an diesem Tag. Was wir aber wissen ist, dass auf der anderen Seite nicht nur Europa wartete, sondern auch die Küstenwache. Und die war sehr daran interessiert, wer das Boot lenkte, denn in Griechenland gilt derjenige als der Schlepper und wird unter Anklage gestellt.

Seitdem, und das ist mittlerweile fünf Jahre her, wartet Amir. Auf ein Verfahren, einen Freispruch – Amir weiß es nicht genau. Seine Frau mit den Kindern ist vor Monaten weiter nach Deutschland gezogen. Amir kann das nicht, er darf die Insel nicht verlassen. Doch arbeiten oder Teil der griechischen Gesellschaft darf er auch nicht werden.

Space-Eye Hellas gibt Amir eine Unterkunft in einem kleinen Apartment mitten in der überschaubaren Hauptstadt der Insel. Er wäre sonst obdachlos und ohne Unterstützung von Space-Eye auch nicht in der Lage, für seinen täglichen Bedarf zu sorgen. Eine andere Organisation, die Vergleichbares tut, gibt es auf Samos nicht. Er wohnt in einem Zimmer mit einem anderen Flüchtling, der sein eigenes hartes Schicksal mit sich trägt. Die beiden schlagen sich durch zusammen – Freunde sind sie nicht, eher eine Art Notgemeinschaft mit gemeinsamer Küche.

Amir freut sich, hat sich sofort ein Heft gekauft. Er hat eine Möglichkeit gefunden, ein paar Brocken Deutsch mit einer Deutschen zu lernen. Denn auch, wenn alles unklar ist, sein Ziel hat er vor Augen: Deutschland, da wo seine Familie lebt. Wann auch immer das sein mag und wer auch immer es entscheiden wird …

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Uschi (Uschi Wohlgefahrt Braun) sagt, alles habe damit begonnen, dass sie aus privaten Gründen nach Samos kam, um zu bleiben. 2020 war das, mitten im Corona-Jahr. Sie hatte eine Wohnung gemietet, doch eingezogen ist sie dort nicht.
 
Denn direkt nach ihrer Ankunft hat sie eine junge Frau getroffen. Verzweifelt, Flüchtling, obdachlos. Kein Problem, sagt Uschi, sie kann bei ihr einziehen, sie finde für sich auch eine andere Lösung. Damit war, ohne dass Uschi es damals schon wusste, das Housing-Projekt Samos geboren. Es sollten später noch das Projekt in Athen und auf Lesbos dazukommen.
 
Immer mehr Menschen wenden sich an sie, weil sie das Camp nach der Anerkennung des Asylantrags verlassen müssen und nicht wissen wohin. Sie müssen auf ihren Pass warten, um weiterziehen zu können. Die griechische Regierung unterstützt sie als anerkannte Flüchtlinge allerdings nicht mehr – nicht mit finanziellen Mitteln, nicht mit Unterkunft.
 
Uschi ist keine, die großes Aufheben macht. Nicht um sich selbst und nicht um das, was sie jeden Tag ehrenamtlich tut. Zu den Hochzeiten der Flucht bietet sie über 100 Menschen auf Samos Unterschlupf und Versorgung mit dem Nötigsten. Uschi macht einfach. Immer wieder spricht sie den Leitsatz von Space-Eye, mit denen sie sich nach einiger Zeit mit ihrem Housing-Projekt zusammentut, aus: Handmade Humanity. Das ist, was für Uschi zählt.
 
Meist ist sie alleine unterwegs, wenn sie Glück hat, ist ein Volunteer für begrenzte Zeit gekommen, um sie zu unterstützen. Bei der Betreuung der Menschen, bei der Ausstattung der Wohnungen, beim Räumen von Wohnungen, wenn Menschen weitergezogen sind. Bei der Administration. Zu Uschi gehört ihr kleines, gelbes Auto, das mal zum Transportmittel für Wäscheberge wird, mal zum Verkehrsmittel, um Menschen aus dem neuen Camp in den Bergen abzuholen und zu der von Uschi angemieteten Unterkunft zu bringen.
 
„Mama Uschi“ nennen sie die Flüchtlinge. Und sicher ist sie das auch: Wie eine Mutter, die sich um die Menschen in Not sorgt, Unterstützung bietet, wo sie am dringendsten gebraucht wird, aber auch klare Regeln setzt. Dabei geht es nicht um Erziehung des Einzelnen, nicht mal um Integration in die griechische Gesellschaft, sondern um das Wohl aller und des Projektes. Denn die griechische Polizei beendet die Tätigkeit von Hilfsorganisationen sofort, wenn zum Beispiel nicht registrierte Flüchtlinge in den von ihr angemieteten Wohnungen unterschlüpfen. Und damit wäre nicht nur für die aktuellen Bewohner die Zufluchtsmöglichkeit beendet.
 
Aber das ist nicht die einzige Gefahr für das einzige Housing-Projekt auf Samos. Es gibt so viele Krisen auf dieser Welt, die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich ab und damit häufig auch das Interesse der Spender. Und auf Spenden ist das Projekt zu 100 % angewiesen. Staatliche Unterstützung gibt es nicht. Freilich geht es nicht darum, dass sich die Krisen Konkurrenz machen sollen. Vielmehr geht es darum, dass die Krise an der europäischen Außengrenze längst nicht beendet ist. Ob wir das in Deutschland und dem Rest der Welt wissen oder nicht.
 
Immer wieder wird sie von Menschen außerhalb von Griechenland gefragt: Kommen denn überhaupt noch Flüchtlinge? Man hört ja gar nichts mehr. Laut Aegean Boat Report waren es 2022 rund 11.500 Menschen, die mit kleinen, überfüllten Booten über das Meer auf die griechischen Inseln gekommen sind. Irregulär oder illegal, wie es heißt, denn eine legale Einreisemöglichkeit gibt es für kaum einen Flüchtling außerhalb der Ukraine nach Europa. 11.500 Menschen, die im Lager auch tatsächlich angekommen sind. Das ist die erste Stelle, wohin Menschen von der Küstenwache oder Polizei auf der Insel gebracht werden müssten. Um registriert zu werden, versorgt zu werden, in Quarantäne zu gehen und den Asylprozess zu starten. Im gleichen Zeitraum sind jedoch 26.133 Menschen nicht angekommen, sondern per Pushback – illegalen Pushbacks, die gegen die Menschenrechte verstoßen – zurück in die Türkei geschickt worden.
 
Bei Uschi im Projekt kommen die Menschen erst an, wenn sie den Asylprozess fast abgeschlossen haben. Bei fast allem Menschen, die sie betreut, wurde der Antrag anerkannt und sie warten auf ihre offiziellen Papiere, um die Insel verlassen zu können. Denn das wollen fast alle. Wie lange so ein Prozess dauern können, von Ankunft am Strand bis zum Ausweis, der den Schengenraum zumindest für Reisen öffnet? Uschi sagt, das wisse man nicht. Es ginge im letzten Jahr deutlich schneller. Oft hätten Menschen früher bis zu zwei Jahre auf die erste Anhörung im Camp warten müssen. Heute kann es in wenigen Monaten geschafft sein. Aber wie lange man dann ohne Unterstützung auf die Papiere warten müsse, ist für die Betroffenen und auch für Uschi offen. Das sei nicht vorhersehbar. Wochen, manchmal Monate, wenn es Probleme gibt, auch mal Jahre, in denen man die Insel nicht verlassen darf.
 

Uschi bekommt einen Anruf von MSF, der französischen Sektion der Ärzte ohne Grenzen, der letzten verbliebenen NGO, die Menschen kostenfrei medizinisch und manchmal, wenn Zeit ist, auch psychologisch versorgt. Denn: auch die NGOs sind weitergezogen oder haben sich aufgelöst. Waren es in 2016 rund 60, die auf der Insel für alles Mögliche gesorgt haben, sind es aktuell vielleicht noch 12. Inklusive Rechtsberatung und eben medizinischer Versorgung. Und Space-Eye-Hellas mit Uschis Housing-Projekt.

 

 
 
MSF ruft also an. Sie hätten einen besonders schwierigen Fall. Ob Uschi helfen könne. Eine Mutter mit einer Tochter im Teenageralter. Die jüngere Tochter hat die Überfahrt nicht überlebt. Sie fiel nahe dem rettenden Strand von Samos ins Wasser, wurde abgetrieben, ist ertrunken. Uschi setzt sich in Bewegung, sie muss eine Unterkunft für Mutter und Tochter finden, noch am gleichen Abend, sie sollen nicht länger im Camp bleiben. Dort waren sie einige Wochen nach dem schrecklichen Ereignis und haben auf die Anerkennung – wie alle anderen – warten müssen.
 
Ob Uschi manchmal erschöpft ist? Wir wissen es nicht, anzumerken ist es ihr nicht. Sie macht einfach, was sie für richtig hält. Zieht eine klare Grenze zwischen Gleichbehandlung, wo alle das Gleiche bekommen und Fairness, wo es darum geht, zu sehen, wer was nötig hat. Und Uschi achtet darauf, was nötig ist. Nicht immer ist es mit Geld zu besorgen. Aber oft eben schon. Das Budget ist eng bemessen, Uschi haushaltet mit klarem Verstand und unfassbar gutem Überblick. Sie weiß, wie man mit wenig auskommt und Löcher stopft.
 
Was sie frustriert? Das sich nichts wirklich geändert hat über all die Jahre. Menschen kommen und gehen, sitzen in Camps unter fragwürdigen Umständen fest und wissen danach auch nicht wirklich weiter. Ob sie darüber nachdenkt aufzugeben? Nein, Aufgeben ist nicht Uschis Ding. Zu viele werden auch in der Zukunft auf sie angewiesen sein. Auf ihre Hilfe, ihren Pragmatismus und ihre Menschlichkeit. Und für jeden Einzelnen wird es einen Unterschied machen, sie kennengelernt zu haben.
 
Das Housing-Projekt soll weitergehen! Sie möchten Space-Eye-Hellas unterstützen?
“We deal with the pain”

“We deal with the pain”

Von Martina Günther (Januar 2023)

Wie soll man beschreiben, wie es ist im Camp Moria 2.0 auf Lesbos zu arbeiten? Aktuell arbeite ich gerade im Container von Earth Medicine. Der Container steht erhöht oberhalb, man hat also einen guten Überblick über das Geschehen dort unten. Wenn es nicht gerade aus Kübeln regnet, sieht es in der Wintersonne fast harmlos aus.

Es sind viele neue Menschen angekommen. Die Härte der Flucht zeigt sich durch einen bei allen ähnlichen Symptomenkomplex. Als Erstes der Schmerz: im Rücken, in den Gelenken, häufig nach Überanstrengung und Stürzen, auch Kopfschmerzen. Magenschmerz meist durch Fehlernährung, Kraftlosigkeit und Erschöpfung.

„We deal with the pain“. Dieser Satz ist in einem der vielen Gespräche gefallen, die Fabiola Velasquez von Earth Medicine führt. Der Weg zum Container ist kurz, es kommen viele Menschen vorbei mit ihren Anliegen. Es wird geklärt, was zu tun ist. Zuzuhören und zu erklären, wer wie weiterhelfen könnte, kostet jedes Mal Kraft und Zeit.

„We deal with the pain“ meint, dass das therapeutische Angebot von Physiotherapie, Akupunktur bis hin zu Homöopathie genau dort ansetzt. Die Gespräche oder besser Konsultationen dienen dem Zweck, einen Therapieplan aufzustellen und herauszufinden, wer intensivere Betreuung benötigt. Es wird im Container gearbeitet, aber auch im „Office“ – der Praxis – in Mytilini. Dort werden die Patienten behandelt, mit Essen, netter Gesellschaft und Gesprächen versorgt. Natürlich sind die Ressourcen knapp. Auch sie bestimmen darüber, wer behandelt werden kann.

Was Fabiola durch ihr Arbeitspensum möglich macht, ist enorm, aber es braucht unbedingt auch den finanziellen Hintergrund. Die Spenden von Space-Eye und jedem anderen Spender sind herzlich willkommen. Ein Dankeschön an jeden, der diese Arbeit so unterstützt.

In dieser Woche habe ich gelernt, dass ein Gewehrkolben ein präzises Schlaginstrument ist, um Knochen zu brechen: Wirbelkörper, Hände, Füße, Rippen. Es ist nicht harmlos dort unten.

Solche Gespräche sind schwierig. Manchmal erwischt es uns auch. Die zugewandte therapeutische Stabilität bekommt Risse und man muss sich kurz sammeln, um weitermachen zu können. Aber zu sehen, dass ein Vertrauen entsteht, das sich in einer Umarmung ausdrückt, oder im Halten einer Hand, einem Blick vielleicht nur, ist Trost und Hoffnung für alle Beteiligten.

Die Autorin Martina Günther

Der Behandlungscontainer von Earth Medicine auf Lesbos (Fotos: Martina Günther)

Kriegsversehrte aus der Ukraine bei Space-Eye

Kriegsversehrte aus der Ukraine bei Space-Eye

Ein Mann mit nacktem Oberkörper steht in einem gefliesten Raum mit gesenktem Kopf vor einem Spiegel. Ihm fehlt der linke Arm.

Die Folgen des Ukrainekriegs spürt Yurij Sukhotin am eigenen Leib. Durch einen Raketenbeschuss wurde ihm der Arm weggerissen.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Eine Hand hält ein Mobiltelefon, auf dessen Bildschirm zu sehen ist ein Foto, das einen verletzten Mann mit blutüberströmten Gesicht zeigt.

Ihor war auf dem Weg an die Front, als er in einen Hinterhalt geriet und beschossen wurde. Das Foto zeigt ihn verletzt nach dem Angriff.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Ein Mann sitzt an einem Tisch, vor ihm steht eine Frau und gestikuliert erklärend mit den Händen, im Hintergrund Blätter aus Papier an der Wand mit kurzen deutschen Phrasen.

Yurij Sukhotin beim Deutsch-Unterricht, den Space-Eye für ukrainische Flüchtlinge organisiert hat.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

 

Ein Mann sitzt vornübergebeugt auf einer Liege, eine zweite Person umfasst seinen linken Fuß zur Behandlung.

Ihor Zubritzskyi bei der Physiotherapie: Der 38-jährige Berufssoldat will, sobald es geht, zurück in die Ukraine zu seinen Kameraden.

Bildrechte: BR/Sebastian Grosser

Ukrainische Verwundete in Bayern: Den Krieg vor Augen

Verbrannte Gesichter, zerfetzte Arme und Beine: Seit Kriegsbeginn wurden und werden in bayerischen Krankenhäusern 87 ukrainische Verwundete behandelt. Doch auch nach dem Klinikaufenthalt sind die Betroffenen auf Hilfe angewiesen.

Von Sebastian Grosser (BR)

 
Wenn Yurij Sukhotin seinen Körper im Spiegel betrachtet, sieht er die Folgen des Ukraine-Kriegs. Dem 27-Jährigen fehlt der linke Arm. Durch einen Raketenbeschuss wurde er ihm weggerissen, als er Ende April in Luhansk in der umkämpften Ostukraine eingesetzt war. Dort, wo einmal sein linker Arm war, prangt jetzt eine frische Narbe. Mehrere Operationen hat Yurij hinter sich, unter anderem auch in Bayern. Seit gut vier Monaten lebt er mit seiner Familie in Regensburg, in einem Haus der Hilfsorganisation Space-Eye. Doch mit den Gedanken ist der Berufssoldat immer noch in der Ukraine. „Ich beobachte die Situation in der Ukraine pausenlos. Ich telefoniere, schaue Nachrichten, versuche irgendwie einen Überblick zu behalten.“ Auch wenn Yurij wohl keine Waffe mehr halten können wird, der Krieg lässt ihn nicht los. „Ich habe einen Eid geschworen auf die Ukraine und das ukrainische Volk. Es ist eine schwierige Situation für mich, denn ich möchte was tun.“
 
 

Kriegsverwundete in deutschen Krankenhäusern

Das Schicksal von Yurij Sukhotin teilen viele Soldaten, die derzeit in Deutschland behandelt werden. Allein in Regensburg sind es 13 Kriegsverletzte. Ein Teil davon wurde oder wird noch an der Regensburger Uniklinik behandelt. So auch Ihor Zubritzskyi. Er sitzt auf seinem Krankenbett in der Station für Unfallchirurgie. Es ist die letzte Visite, bevor der Soldat entlassen wird. „Im Moment sieht alles sehr gut aus. Die Wunden sind gut verheilt. Sie sind ja auch noch ein junger Mann. Das wird gut“, bewertet Chefarzt Volker Alt die Verletzung am Bein, ausgelöst durch einen Schuss. Ihor war auf dem Weg an die Front in der Nähe von Donezk, als er in einen Hinterhalt geriet und beschossen wurde. Neben seinem Bein wurde auch ein Benzinkanister getroffen. Ihor konnte aus dem Auto springen und sich in einen Graben retten, wo er mehrere Tage verbrachte, blutüberströmt und mit Verbrennungen im Gesicht.

 
 

Kriegsverletzungen: Wundinfektionen bis Amputationen

Die Wunden sind inzwischen gut verheilt. Nur um sein Kniegelenk muss Ihor noch eine Vorrichtung aus mehrere Stäben tragen, die das Gelenk in der richtigen Position hält. Nach seiner Ankunft in der Uniklinik war es den Ärzten vorerst wichtig, eine Infektion zu verhindern. Denn Wundinfektionen sind bei Kriegsverletzungen nicht selten, sagt Unfallchirurg Alt. „Das Perfide daran ist, dass durch Projektile oder Granatsplitter Bakterien in den Körper eintreten, die dann schwere Wundinfektionen hervorrufen können. Unbehandelt führt das oft zu einer Blutvergiftung und im schlimmsten Fall bleibt als einzige Möglichkeit nur die Amputation.“

Ukrainische Kliniken: Mangel an Ressourcen

Wie langwierig die Behandlung einer Wundinfektion sein kann, sieht man ein paar Zimmer weiter. Hier lebt ein ukrainischer Soldat schon mehrere Monate. Der Mann, der bereits vor dem Ukraine-Krieg im Donbas gekämpft hat, hat zudem multiresistente Keime in seinem Körper. Nur mit Kittel und Handschuhen darf man den Raum betreten. Alt glaubt nicht, dass der Mann in der Ukraine unprofessionell behandelt wurde.

„Die ersten Operationen in den Krankenhäusern und von den Kollegen in der Ukraine sind chirurgisch sauber gemacht. Aber natürlich mit limitieren Ressourcen.“ Prof. Volker Alt, Unfallchirurgie Uniklinik Regensburg

In Regensburg sei man auf solche Fälle spezialisiert. Eine Luxussituation, von der auch die ukrainischen Verwundeten profitieren sollen.

EU: Über 500 Patiententransporte aus Ukraine

Laut dem Bundesgesundheitsministerium hat Deutschland die meisten ukrainischen Kriegsverletzten aufgenommen. „Dabei wird nicht zwischen militärischen und zivilen Kriegsverletzten unterschieden“, so eine Pressesprecherin auf BR-Anfrage. Daher könne die genaue Anzahl der ukrainischen Soldaten, die sich in Deutschland und Bayern in Behandlung befinden, nicht beziffert werden. Das Bayerische Innenministerium spricht von über 500 ukrainischen Kriegsverletzten in Deutschland, 87 davon wurden in bayerischen Krankenhäusern aufgenommen. Ein Großteil der Kosten für den Transport übernimmt die Europäische Union. Die Kosten für Behandlung oder zum Beispiel für Prothesen in Deutschland werden seit Juni von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, sofern die Verwundeten bei der Ausländerbehörde registriert sind.

 

Nach Klinikaufenthalt: Hilfe für den Alltag gefragt

Zurück im Wohngebäude der Hilfsorganisation Space-Eye. In einem kleinen Raum im Erdgeschoss befinden sich zwei Tischreihen und eine Tafel, auf der verschiedene Gemüsesorten stehen. In der ersten Reihe sitzt Yurij Sukhotin. Der Berufssoldat versucht das Beste aus seiner Situation zu machen. Er hilft selbst neuen Flüchtlingen, erledigt Arbeiten, trotz seines Handicaps. Daneben nimmt er Deutsch-Unterricht, den Space-Eye für ukrainische Flüchtlinge organisiert hat. Im Nebenraum gibt es sogar ein Kinderzimmer, damit auch Mütter das Angebot wahrnehmen können, erklärt die ehrenamtliche Helferin Christiane Lederer.

„Der Krieg ist ein Angriff auf unsere Werte. Und daher war vom erstem Moment ein inneres Gefühl da: Ich muss hier was tun, was ich tun kann.“ Christiane Lederer, Space-Eye Regensburg

Bei Space-Eye kümmert sich die 40-Jährige um die ukrainischen Flüchtlinge – neben ihrem Fulltime-Job. „Das Ganze ist schon ein Spannungsfeld, das alles mit Partnerschaft und Familie in Einklang zu bringen. Die Familie steckt da entsprechend zurück.“ Doch der Angriffskrieg habe ihr keine Wahl gelassen.

Ehrenamtliche Helfer: Krieg kommt näher als gewollt

Wie bedeutend die Hilfe von Christiane Lederer für die ukrainischen Verwundeten und ihre Familien ist, zeigt sich in einem einzelnen Moment. Als sie die Drei-Zimmer-Wohnung der Familie Sukhotin betritt, stürmt Yurijs Tochter auf die 40-Jährige zu und klammert sich innig um ihren Hals. Das Mädchen wird Lederer während des ganzen Besuchs nicht mehr loslassen. Wie der Krieg auch Lederer nicht. Er ist ihr sehr nah. Helfer wie Lederer bekommen viel zu sehen, vor allem Fotos und Videos aus dem Krieg. Am Anfang sei das schon verstörend gewesen, sagt ein Übersetzer. „Aber man stumpft ab.“ Inzwischen könne er die schrecklichsten Videos sehen und nebenbei sein Müsli essen.

 
 

Verwundete Soldaten: Zurück an die Front?

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ist auch Ihor Zubritzskyi in dem Wohnkomplex am Rande der Regensburger Altstadt untergekommen. Christiane Lederer besucht ihn regelmäßig. Sie organisiert für ihn Arztbesuche oder die Physiotherapie, damit der 38-Jährige bald wieder ohne Krücken laufen kann. Ihor weiß die Hilfe sehr zu schätzen, auch wenn er sie nur so lang wie nötig in Anspruch nehmen möchte. Ihor will zurück in die Ukraine, zurück zu seinen Kameraden, die gerade in der Region Cherson kämpfen.

„Ich bin ihr Kommandeur. Selbst wenn ich hier bin, will ich ihnen helfen. Sie sind wie Brüder für mich.“ Ihor Zubritzskyi, verwundeter ukrainischer Soldat

Mit seiner Hand streicht Ihor über sein Handy. Ein Video geht los. Darauf zu sehen sind er und seine Kameraden in einem Transporter. Ihor deutet auf ein, zwei Personen. „Tot. Gefallen.“

Elias – der freundliche Bäcker aus Syrien

Elias – der freundliche Bäcker aus Syrien

Von Eva Höschl

Elias sitzt zusammen mit Marie-Thérèse und mir in seiner zukünftigen Bäckerei nahe der Armenisch-Katholischen Kirche im Athener Stadtteil Neos Kosmos. Marie-Thérèse übernimmt freundlicherweise wieder die Übersetzung – welch ein Glück, dass sie fünf Sprachen spricht, unter anderem auch arabisch.

Elias ist 22 Jahre alt und ein freundlicher, zurückhaltender junger Mann. Er wuchs mit seiner Familie in Syrien auf, in der Stadt Suqaylibīyah, die sich in der Region Hama befindet. Gerne erinnert er sich an seine schöne Kindheit zurück; es fehlte ihm an nichts und seine Eltern kümmerten sich gut um ihn und seine Geschwister George und Lucie. Als kleiner Junge spielte er am liebsten zusammen mit seinen Freunden Murmeln, später dann Fußball.

Im September 2019 beschloss Elias, aus Syrien zu fliehen. Wäre er in seiner Heimat geblieben, wäre er zum Militärdienst eingezogen worden. In Syrien ist nie klar, wie lange der Militärdienst dauert – es können fünf, sechs, sieben oder auch zehn Jahre sein, erzählt er. Die politische Situation im Land war und ist sehr schwierig, und bei Militäreinsätzen werden Christen wie Elias an die Front geschickt, sozusagen als „Kanonenfutter“ in die ersten Reihen. Gemeinsam mit einem anderen jungen Mann aus dem Dorf floh er im gleichen Monat. Seine Fluchtroute führte ihn zuerst nach Arbil im Iran, weiter nach Bodrum in der Türkei, auf die griechische Insel Kos und schließlich als Bootsflüchtling nach Athen. Dort kam er am 16. Oktober 2019 an.

Zusammen mit fünf anderen Geflüchteten wohnte Elias in einem von den Schmugglern organisierten Apartment. Es gab wenig Platz für die sechs Männer: gegessen wurde in Etappen, da es nur einen kleinen Tisch für drei Personen gab und jeder Geflüchtete erhielt nur einmal am Tag eine Fertigsuppe zum Essen.

Mit seinen Eltern war Elias die ganze Zeit über in Kontakt, von den schwierigen Bedingungen jedoch erfuhren sie nichts. Um sie nicht zu beunruhigen, schickte Elias Bilder von gefüllten Tellern, die er an anderen Orten fotografierte. Mit dem Geld, das die Schmuggler von Elias für seinen Lebensunterhalt erhalten hatten, setzten sie sich nach Holland ab. Nun war er also ohne Geld in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, dessen Sprache er noch nicht mächtig war. Von Bekannten aus seiner Heimat hörte er vom Hilfsangebot der Armenisch-Katholischen Kirche in Athen. So machte er sich auf den Weg zu Monsignore Joseph und fragte, ob er einen Platz zum Schlafen für ihn habe. Monsignore Joseph, der sich in Athen intensiv um Geflüchtete kümmert, nahm Elias auf. Vom ersten Moment an fühlte sich Elias wohl dort. Endlich bekam er genug zu essen und hatte ein sicheres Dach über dem Kopf. Dankbar bot er Monsignore Joseph seine Hilfe an. Elias packte mit an, wo auch immer es etwas zu tun gab. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und schätzten sich gegenseitig. So kam es, dass Monsignore Joseph Elias nach einiger Zeit fragte, ob er sich nicht vorstellen könne, auf Dauer hier in Athen zu leben. Elias, der ursprünglich weiter nach Norwegen wollte, überlegte nicht lange. Er entschloss sich zu bleiben, hatte er doch hier so etwas wie eine zweite Heimat gefunden.

Brot backen war schon immer eine große Leidenschaft von Elias, insbesondere das Brot seiner Heimat. So konnte er sich vorstellen, in Athen eine Ausbildung zum Bäcker zu absolvieren. Doch eine Ausbildung kostet Geld. Deshalb nahmen Uschi und Monsignore Joseph Kontakt zu Space-Eye auf und baten um finanzielle Unterstützung. Space-Eye sagte zu und Elias konnte die sechsmonatige Ausbildung beginnen. Wie glücklich war er darüber! Inzwischen hat er seine Ausbildung zum Bäcker nahezu abgeschlossen und backt köstlich duftendes, leckeres Brot – wir durften davon kosten und waren begeistert!

Ich frage Elias nach seinen Wünschen für die Zukunft: Er wünscht sich, dass seine Eltern und seine Geschwister zu ihm nach Athen kommen können. Dann wäre die Familie wieder vereint und alle in Sicherheit.  Und noch einen Wunsch hat er: Seine zukünftige Bäckerei – die Papiere lassen noch auf sich warten – soll so gut laufen, dass er damit genügend Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen und wieder für sich selbst sorgen kann. Mögen seine Wünsche in Erfüllung gehen, wir drücken ihm von ganzem Herzen die Daumen!