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Es sind immer Menschen, die Dich retten – aber vor allem: Du bist es selbst!

Foto: Thomas Ratjen

„Warum bist Du zu uns gekommen?“ „Ich habe Herzprobleme.“ „Du hast Herzprobleme? Warst Du damit bei einem Arzt?“ „Ja, er sagt, ich hätte keine Herzprobleme. Und er hat mir Schmerzmittel gegeben.“

Fabiola und ihr Farsi-Übersetzer, selbst ein Flüchtling im Camp, sind mit Amira, einer jungen afghanischen Frau im Behandlungsraum im Container von Earth Medicine. Im Flüchtlingscamp auf Lesbos. Auf der griechischen Insel, auf der seit 2015 Hunderttausende Flüchtlinge über die gefährliche, wenn auch eigentlich kurze Route, über das Meer aus der Türkei gekommen sind. So auch Amira. Und jeder Einzelne im Camp, egal, ob jung oder alt. Egal, ob körperlich fit oder schon vor der Flucht beeinträchtigt.

Wir wissen nicht, ob Amira es beim ersten Mal geschafft hat. Oder ob sie es öfter versuchen musste, weil sie einen oder mehrere Pushbacks erlebt hat. Wir wissen nicht, was sie in Afghanistan und auf der Flucht erlebt hat. Was wir aber wissen ist, dass sie heute hier sitzt und es ihr schwerfällt, über sich zu sprechen. Auf viele von Fabiolas Fragen weiß sie nicht, was sie antworten soll. Auch als der männliche Übersetzer hinausgeschickt wird und sie es mit Online-Übersetzer und Bildern an der Wand versuchen, blickt sie sich immer wieder um, als suche sie ein Schlupfloch, um der Situation zu entkommen. „Viele Menschen haben den Kontakt zu sich selbst und ihrem Körper verloren“, sagt Fabiola, „das ist eine Art Schutzmechanismus“.

Fabiola braucht aber viele Informationen, um verstehen zu können, wie Hilfe von ihrem Team aussehen kann. Sie ist stolz darauf, ein Team zu haben, das aus verschiedenen Perspektiven auf das Individuum schaut. Man nennt es auch ganzheitlich. Und das, wenn immer möglich, langfristig betreut. Denn was ist schon langfristig an einem Durchgangsort? Manchmal Wochen, manchmal zwei Jahre, wenn der Asylprozess schlecht für den Einzelnen läuft, auch mal mehr. Oft ist der Ausgangspunkt eine medizinische Diagnose, manchmal unter Zeitdruck erstellt und von irgendwo her. Und eben das ausführliche Aufnahmegespräch mit Fabiola.

Fabiola ist einfühlsam, aber nicht immer geduldig. Zu viele Menschen warten auf ihre Unterstützung. Und das sagt sie den Menschen auch. Um gleich von Anfang an deutlich zu machen: Wir wollen Dein Bestes, aber Du musst es auch wollen! Und vor allem: Du musst es in die Hand nehmen! Übungen aus der Physiotherapie auch ohne uns machen. Verstehen, was Dir hilft. Gewohnheiten ändern. Vereinbarungen einhalten. „Sonst wird es nichts“, sagt Fabiola kristallklar.

Viele Frauen trinken viel zu wenig. Manchmal nur 1–2 Gläser Wasser am Tag. Auch wenn die Sanitäranlagen viel sauberer sind als in früheren Camps, tun sie alles, um den Gang dorthin zu vermeiden. „Dein Körper braucht Flüssigkeit! Es geht nicht darum, dass ich das Wasser mag oder es besonders genieße. Ich trinke, weil mein Körper sonst nicht funktionieren kann – und Deiner auch nicht“, erklärt Fabiola Amira. Amira schaut, als habe sie nie darüber nachgedacht.

„Wie lange schläfst Du nachts?“ Amira überlegt. „Ein, zwei Stunden, dann bin ich wieder wach.“ „Was hält Dich wach?“ „Ich habe Angst vor den Alpträumen. Denn ich weiß, dass sie kommen werden.“

Seit acht Jahren ist Fabiola hier. Sie liebt, was sie tut, gibt sich mit den Verhältnissen nicht zufrieden. Ist von einem Camp zum anderen weiter gezogen, mit der von ihr gegründeten NGO: von Moria, das viele von uns als Schreckenslager aus den Medien kennen, über Kara Tepe, in dem früher besonders zu schützende Menschen untergebracht wurden bis hierhin in das „neue“ Camp am Meer. Und es wird sicher nicht die letzte Station auf Lesbos sein. Immer wieder hat es Schließungen und neue Camps gegen. Ein neues wartet bereits auf seine Eröffnung.

Über Fabiola gibt es einige Dokumentationen, Filme, Artikel. Kaum jemand ist so lange hier, die meisten als Volunteers  sogar nur ein paar Wochen. „Das ist ein großes Problem“, sagt Fabiola, „wie sollen Menschen optimal unterstützt werden, wenn es gar keine Stabilität gibt, wenn jede Organisation x-mal im Jahr wieder anfangen muss, Kontakte mit Behörden aufzunehmen, Netzwerke zu knüpfen. Dafür habe ich keine Zeit, es sind viel zu viele Schicksale, die wir begleiten müssen. Viel zu viele. Wir haben keine Zeit zu verschenken, denn wir stehlen sie den Menschen, die uns brauchen und denen sonst unsere Art der Unterstützung niemand zukommen lässt!“ Aber Menschen, die länger bleiben könnten, müssten bezahlt werden können. Und das ist schwierig in NGOs. Fabiolas Team wird von Space-Eye unterstützt und ist glücklich über die Verbindung.

Mit Fabiola zusammen zu sein, ist ein besonderes Erlebnis. Sie ist energiegeladen, voller Tatendrang, behält den Überblick und den Blick für Bedürfnisse der einzelnen Menschen. Sie scheint überall gleichzeitig zu sein. Dabei aber nicht gestresst oder hektisch, sondern einfach nur hoch konzentriert. Und sie scheint nie aufzugeben. Egal, ob es um bürokratische Prozesse oder die Behandlung einer Patientin geht. Fabiola ist kämpferisch. Und erfinderisch. Zum Wohl derjenigen, um die sich sonst niemand kümmert. Denn Menschen mit Behinderungen oder Verletzungen sind schlecht dran auf der Flucht. Und auch im Camp ist Barrierefreiheit ein Fremdwort.

„Natürlich musst Du als Einzelner auch wollen, dass man Dir hilft. Und es sind Menschen wie wir, die hier benötigt werden, um Dinge voranzutreiben und Linderung von grenzenlosem Leid zu schaffen.“ Was kann dies für ein Leid sein? Oft ist es nicht völlig offengelegt, ergibt sich aus dem Herkunftsland. Oder aus der besonderen Situation einer Minderheit im Land und auf der Flucht. Aus einer Behinderung, aus Foltermalen und Gewalt, die Menschen auf allen Stationen erlitten haben können. Menschenrechte und Sicherheit, davon können viele träumen. Oder haben sogar das aufgegeben.

„Niemand von Euch sollte hier sein“, sagt Fabiola zu den Bewohnern des Camps, die um sie herum auf die Behandlung warten. Und sie meint damit, dass alle das Recht auf ein Leben in Frieden haben sollten. In dem Menschenrechte nicht infrage gestellt sind. In dem individuelle Unterstützung auch bei körperlichen Leiden eine Selbstverständlichkeit ist. In dem man die eigene Familie um sich hat und nicht auch noch um deren Leben fürchten muss.

Fabiola wird dies nicht ändern können. Aber mit Earth Medicine, das sie gegründet hat, trägt sie und ihr Team enorm dazu bei, dass zumindest die Leiden der Schwächsten im Camp gelindert werden. Natürlich muss auch sie eine Priorisierung treffen, es sind hunderte Menschen im Camp, wahrscheinlich über tausend. Sie hat einen kleinen Behandlungscontainer und ein paar Räume in der Stadt. Ein kleines Kernteam und ansonsten Freiwillige, die Expertinnen in dem sind, was sie anbieten. Das geht von Physiotherapie, bis Traumabehandlung und Homöopathie. Wenn immer es geht, ist jemand dabei, der Akupunktur beherrscht. Auch das muss Fabiola organisieren, denn die Helfer kommen aus der ganzen Welt und müssen binnen Stunden ins Team eingeführt sein. Und das klappt, weil alle wissen, warum sie hier sind. Um Leid zu lindern. Um Menschen so fit zu machen, dass sie die nächsten Schritte, im wörtlichen und übertragenen Sinn, gehen können. Denn hierbleiben wird niemand. Und das würde auch niemand wollen.

Über Fabiola und Earth Medicine gibt es einige Dokumentationen auf YouTube und auch der Webseite von Space-Eye und Earth Medicine Physical Rehabilitation. Deshalb hier nur eine kleine Auswahl:

https://m.youtube.com/watch?v=VrrujENLvwM
https://www.youtube.com/watch?v=dknRwYYHOAU

Das Projekt darf nicht enden! Sie möchten Space-Eye Hellas unterstützen?
betterplace.org/de/p89765
https://space-eye.org/uschis-housing-project

Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp erlebt habe

Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp erlebt habe

„Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“ Yousef wirkt außer sich, seine Augen wandern herum, er sagt, sein Kopf funktioniere nicht mehr und er habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Morgens um 6 sei er an der Uferpromenade im Wind herumgetigert, er finde einfach keine Ruhe.

Wir können uns sicher nur teilweise vorstellen, was Yousef in den vergangenen 12 Jahren erlebt haben muss, seit er als Teenager Syrien verlassen hat – gerade mal mit 12 Jahren – ohne Familie, allein und ohne zu wissen, wo der Weg ihn hinführen wird. Oder besser gesagt: die Schmuggler, in deren Hände er sein Leben gegeben haben muss. Denn legale Einreisemöglichkeiten nach Europa gibt es kaum, und alle Menschen, die wir auf den griechischen Inseln treffen, haben hiervon keinen Gebrauch machen können, alle sind mit dem Boot über das Meer aus der Türkei gekommen.

Trotzdem stellt sich uns die Frage: Was bringt ihn jetzt, in diesem Moment, so aus dem Gleichgewicht? Sicher die falsche Frage für Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben lange verloren haben. Gerade deshalb sind es jedoch oft die kleinen Anlässe, oder besser gesagt, für unsere Leben kleine Anlässe, die das gesamte System ins Wanken bringen. In Yousefs Fall ist es, dass sein Handy heruntergefallen und das Display so gebrochen ist, dass er es nicht mehr nutzen kann. Er sagt, er sei schuld daran, einzig und allein seine Schuld sei es, dass dies passiert sei.

55 Euro koste die Reparatur in einer NGO, die auch ein Repair-Café betreibt. Er zeigt uns den Inhalt seiner Taschen: 10,20 Euro. Und wir erinnern uns: Finanzielle oder eine andere Art von Unterstützung gibt es von der griechischen Regierung für anerkannte Flüchtlinge nicht. Arbeiten dürften sie – aber wo auf einer Insel wie Samos?

Das perfide ist: Yousef ist nicht nur nach vielen Jahre der Flucht, Ablehnung, des Wartens anerkannt worden, sondern er hatte tatsächlich schon einen Job. Einen bezahlten Job. Zwei Stunden von Athen entfernt, sagt er, auf einer Orangenplantage. Und: Es gab dort sogar eine Unterkunft für ihn. Doch die Behörden schickten ihn zurück nach Samos. Er müsse dort warten, bis sich seine Anerkennung auch in gültige Papiere umsetze, die er dort abholen müsse. So lange dürfe er nicht weiter, nicht runter von der Insel. Und Yousef wartet wieder …

Doch zurück zum zerstörten Handy. Yousef ist untröstlich, das Handy, sagt er, sei die einzige Möglichkeit, Kontakt mit seiner Familie zu halten. Seine kleine Schwester können sich sicher gar nicht mehr an ihn erinnern. Sie kennt ihn nur von verwackelten Skype-Telefonaten. Und auch die würde es jetzt nicht mehr geben. Immer wieder wiederholt er in gebrochenem Englisch: „Ich habe meine Familie seit 12 Jahren nicht mehr gesehen!“

Das Housing-Projekt von Space-Eye Hellas auf Samos hat einen klaren Fokus: Unterbringung und Versorgung mit dem Nötigsten. Und trotzdem sucht Uschi Wohlgefahrt auch für Dinge, die nicht in den engen Fokus passen, eine Lösung. Und im Fall von Yousefs Handy findet sie auch eine. Wir bringen das Handy gemeinsam weg. Er wirkt beruhigter. In zwei Tagen bekommt er es zurück. Er lächelt, steigt aus dem Auto aus und verschwindet in den kleinen Straßen der Hauptstadt. Er ist in der Männer-WG des Projektes mit anderen fünf Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern untergekommen. Jeweils zu dritt schlafen sie in einem Zimmer.

Tage später treffen wir ihn wieder. Mit dem reparierten Handy in der einen und dem griechischen Reisepass für Flüchtlinge in der anderen Hand! Er lächelt triumphierend. Sagt, er hätte die Fähre nach Athen bereits für den nächsten Tag gebucht. Die Plantage nimmt ihn trotz monatelanger Verzögerung wieder auf.

Als einer der wenigen anerkannten Flüchtlinge will Yousef Griechenland gar nicht verlassen. Die meisten wollen weiter, egal, ob das neue Probleme bedeutet oder nicht. Weil sie Familie in anderen Mitgliedsstaaten der EU haben. Weil Griechenland ihnen das Leben allzu schwer gemacht hat. Weil sie die Flucht hinter sich lassen und der immerwährenden Hoffnung auf den endgültig letzten Schritt in ein neues Leben näherkommen wollen.

Yousef will bleiben, sieht eine Zukunft für sich in Griechenland. Auch wenn wir aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen wissen, dass Arbeiten in Griechenland für Flüchtlinge ein großes Problem ist. Das Land hat die Finanzkrise nie wirklich überwunden, oft arbeiten Flüchtlinge illegal, für legale, langfristige Integration in den Arbeitsmarkt gibt es kaum Programm oder Unterstützung, dafür enorme Hürden. Und Hürden können Flüchtlinge nach allem, was sie durchgemacht haben, keine mehr ertragen. Deshalb lassen sie sich häufig auf dubiose Angebote ein. Wir wünschen uns so sehr, dass Yousef es anders antrifft.

Und als wir einen Abschiedskaffee zusammen trinken, wird er doch noch schwermütig. Bedankt sich für alles, was Uschi für ihn getan hat, sagt, das sei sein Anker gewesen, um nicht ganz unterzugehen. Sagt, er habe seine Familie 12 Jahre nicht mehr gesehen.

Und ohne näher darauf einzugehen, murmelt er immer wieder: „Ich werde niemals vergessen, was ich im Camp auf Samos erlebt habe. Niemals.“

Belgien ist ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen

Belgien ist ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen

Asmaa ist eine junge Frau, eine sehr junge Frau sogar – sie ist nicht mal 20 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie – Ehemann, Sohn mit zwei Jahren und Tochter, acht Monate – von Uschi Wohlgefahrt Braun ins Housing-Projekt aufgenommen wird. Es ist ein Samstagabend, als Uschi, Gründerin von Space-Eye-Hellas, einen Anruf erhält: Zwei Erwachsene mit zwei Babys stünden auf einer Verkehrsinsel auf Samos Stadt und wirkten völlig orientierungslos.
Es ist also ein Samstagabend im Oktober und es ist nicht sehr warm. Die Familie, die aus dem Gaza-Streifen geflohen ist, hat einen positiven Entscheid zum Asylantrag bekommen. Wie viele Flüchtlinge aus Palästina mussten sie zum Glück nicht lange auf diese Entscheidung warten, nur ein paar Monate im Camp. Aber nun heißt es, auf die Papiere warten. Und das außerhalb des Camps.
Uschi fährt zur Verkehrsinsel und findet die Situation, wie vom Anrufer beschrieben. Der Vater sagt, er könne eine Wohnung bezahlen, er könne nur keine finden. Das Camp hätten sie verlassen müssen, denn sie seien jetzt ja anerkannte Flüchtlinge und sie könnten dorthin auch nicht zurück. Seitdem leben sie in einer Unterkunft von Space-Eye-Hellas auf Samos und erhalten Unterstützung zum Lebensunterhalt. Denn, ob sie sich wirklich selbst versorgen können, bezweifelt Uschi, nachdem sie sie näher kennengelernt hat.
Asmaa ist schwanger, das dritte Mal. Sie freut sich sehr auf das Baby, erzählt von den ersten beiden Schwangerschaften und dass sie gut verlaufen seien. Sie spielt mit den Kindern auf dem Boden des kleinen, einfachen Hauses, das ein Zimmer, eine Küche, ein Bad hat. Sie wirkt selbst wie ein junges Mädchen, wie sie so zierlich neben den beiden Kleinkindern sitzt und ihnen leise Sätze zuflüstert. Ihr Sohn lacht, er freut sich, dass Besuch gekommen ist, möchte am liebsten vor Energie platzen. Die Tochter wirkt sehr klein für ihre mittlerweile zehn Monate, große Augen im kleinen Gesichtchen.
Im Gaza-Streifen hätte es keine Zukunft gegeben. Sie sagt, sie hätten gewartet, bis die Kleine eine Chance auf Überleben auf der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer gehabt hätte und seien dann sofort los. Bomben und Schüsse, sagt sie, Tag und Nacht.
Für uns in der westlichen Welt ist es schwierig, den Überblick über den Konflikt im Gaza-Streifen zu behalten. Was wir vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wissen, ist, dass Menschen, die im Gaza-Streifen und im Westjordanland leben, werden trotz ihrer Zugehörigkeit zu den Palästinensischen Autonomiegebieten bis heute als Flüchtlinge geführt werden und zumeist faktisch staatenlos sind. Im Unterschied zu Flüchtlingen in anderen Konflikten vererbt sich bei Palästinensern der Flüchtlingsstatus über Generationen. Sehr viele Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten geflohen, vorwiegend in die Nachbarländer, aber auch nach Europa.
Wie viele Flüchtlinge ist Asmaa, wann immer möglich, in Kontakt mit der Familie in der früheren Heimat. Sie bekommt eine Sprachnachricht nach der anderen Informationen über die Situation vor Ort. Sie wirkt nervös, wie sie immer wieder zum Handy greift und die Nachrichten abhört. So, als sei sie nach wie vor dem Grauen direkt ausgesetzt.
Das Wetter ist mild, es ist ein schöner Samstag, als wir sie besuchen. Ob wir spazieren gehen, wollten mit den Kindern, fragen wir sie. Sie sagt, sie verlasse das Haus nur, wenn es nicht anders ginge. Wohin soll sie auch, sagt sie, sie sei hier in Sicherheit und draußen kenne sie niemanden.
Wie es für sie weitergehen solle, nach dem Warten auf die Ausweise, die das Verlassen der Insel ermöglichen. Sie antwortet, sie habe ein klares Ziel: Belgien! Warum Belgien, fragen wir, ob sie dort Verwandte oder Freunde hätte? Nein, das hier sei jetzt ihre einzige Familie, antwortet sie und zeigt auf die Kinder und ihren Mann. Aber Belgien, hätte sie von anderen Flüchtlingen gehört, sei ein gutes Land, um ein Kind zur Welt zu bringen und großzuziehen. Inshallah, sagt sie.
Eines Tages ist sie abgereist, mit der ganzen Familie. Viel Glück im neuen Leben, Aasma!
Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Wenn ein Sehnsuchtsort zur Falle wird

Die Insel Samos ist eine Schönheit, und jetzt im zart beginnenden Frühling ohnehin: Sonne und Wind, wilde Orchideen, Olivenhaine, kleine Buchten und schroffe Felsen. Ein Paradies, nach dem viele Sehnsucht haben. Doch Samos kann zur Falle werden, der man jahrelang nicht entkommen wird – wenn man Pech hat, so wie Amir aus Afghanistan.

Vor vielen Jahren ist Amir mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, damals noch kleine Kinder, aus Afghanistan geflohen. Sicher hat die Familie viel erlebt, an das Amir aber nicht mehr erinnert werden will. Amir ist 38 Jahre alt, ein sehr schlanker, auf Anhieb sympathischer und sehr zurückhaltender Mann. Wann immer er im Projekt helfen kann, ist er dabei. Er spricht Farsi, lernt bei der letzten NGO, die so etwas anbietet auf der Insel, Englisch. Er hat den Wunsch, sich besser verständigen zu können, wenn er endlich sein Leben fortsetzen kann, woanders, nicht auf Samos.

Amir erging es wie vielen vor und vor allem nach ihm: vor mehr als fünf Jahren stand er mit seiner Familie an der Schwelle zu Europa, auf der türkischen Seite, wartete lange auf den Moment der Überfahrt, den die Schlepper bestimmen, nicht die Zahlenden. Und wie so oft wiederholt sich auch bei ihm die Geschichte: Die Schlepper werden nicht mit an Bord der kleinen, wackeligen Boote kommen, ihr Job endet hier, am Strand in der Türkei. Doch Misserfolge sind schlecht für das Geschäft, sie wollen an jemanden übergeben, der das Boot lenkt. Wenn sich jemand findet, der Erfahrung hat, ist das gut. Wenn nicht, ist es egal – es wird jemand nominiert. Das dauert nur Sekunden und eine Wahl gibt es nicht. Im Fall von Amirs Familie ist es Amir, den es trifft. Er hat keine Erfahrung mit Booten, weiß sicher nicht, was er machen soll und hofft einfach nur, dass sie alle gut auf der anderen Seite ankommen. Am Strand der nicht weit entfernten Insel Samos und damit in Griechenland.

Wir wissen nichts über die Überfahrt, ob es leicht war, ob es gefährlich war an diesem Tag. Was wir aber wissen ist, dass auf der anderen Seite nicht nur Europa wartete, sondern auch die Küstenwache. Und die war sehr daran interessiert, wer das Boot lenkte, denn in Griechenland gilt derjenige als der Schlepper und wird unter Anklage gestellt.

Seitdem, und das ist mittlerweile fünf Jahre her, wartet Amir. Auf ein Verfahren, einen Freispruch – Amir weiß es nicht genau. Seine Frau mit den Kindern ist vor Monaten weiter nach Deutschland gezogen. Amir kann das nicht, er darf die Insel nicht verlassen. Doch arbeiten oder Teil der griechischen Gesellschaft darf er auch nicht werden.

Space-Eye Hellas gibt Amir eine Unterkunft in einem kleinen Apartment mitten in der überschaubaren Hauptstadt der Insel. Er wäre sonst obdachlos und ohne Unterstützung von Space-Eye auch nicht in der Lage, für seinen täglichen Bedarf zu sorgen. Eine andere Organisation, die Vergleichbares tut, gibt es auf Samos nicht. Er wohnt in einem Zimmer mit einem anderen Flüchtling, der sein eigenes hartes Schicksal mit sich trägt. Die beiden schlagen sich durch zusammen – Freunde sind sie nicht, eher eine Art Notgemeinschaft mit gemeinsamer Küche.

Amir freut sich, hat sich sofort ein Heft gekauft. Er hat eine Möglichkeit gefunden, ein paar Brocken Deutsch mit einer Deutschen zu lernen. Denn auch, wenn alles unklar ist, sein Ziel hat er vor Augen: Deutschland, da wo seine Familie lebt. Wann auch immer das sein mag und wer auch immer es entscheiden wird …

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Sag mal: sind denn da überhaupt noch Flüchtlinge?

Uschi (Uschi Wohlgefahrt Braun) sagt, alles habe damit begonnen, dass sie aus privaten Gründen nach Samos kam, um zu bleiben. 2020 war das, mitten im Corona-Jahr. Sie hatte eine Wohnung gemietet, doch eingezogen ist sie dort nicht.
 
Denn direkt nach ihrer Ankunft hat sie eine junge Frau getroffen. Verzweifelt, Flüchtling, obdachlos. Kein Problem, sagt Uschi, sie kann bei ihr einziehen, sie finde für sich auch eine andere Lösung. Damit war, ohne dass Uschi es damals schon wusste, das Housing-Projekt Samos geboren. Es sollten später noch das Projekt in Athen und auf Lesbos dazukommen.
 
Immer mehr Menschen wenden sich an sie, weil sie das Camp nach der Anerkennung des Asylantrags verlassen müssen und nicht wissen wohin. Sie müssen auf ihren Pass warten, um weiterziehen zu können. Die griechische Regierung unterstützt sie als anerkannte Flüchtlinge allerdings nicht mehr – nicht mit finanziellen Mitteln, nicht mit Unterkunft.
 
Uschi ist keine, die großes Aufheben macht. Nicht um sich selbst und nicht um das, was sie jeden Tag ehrenamtlich tut. Zu den Hochzeiten der Flucht bietet sie über 100 Menschen auf Samos Unterschlupf und Versorgung mit dem Nötigsten. Uschi macht einfach. Immer wieder spricht sie den Leitsatz von Space-Eye, mit denen sie sich nach einiger Zeit mit ihrem Housing-Projekt zusammentut, aus: Handmade Humanity. Das ist, was für Uschi zählt.
 
Meist ist sie alleine unterwegs, wenn sie Glück hat, ist ein Volunteer für begrenzte Zeit gekommen, um sie zu unterstützen. Bei der Betreuung der Menschen, bei der Ausstattung der Wohnungen, beim Räumen von Wohnungen, wenn Menschen weitergezogen sind. Bei der Administration. Zu Uschi gehört ihr kleines, gelbes Auto, das mal zum Transportmittel für Wäscheberge wird, mal zum Verkehrsmittel, um Menschen aus dem neuen Camp in den Bergen abzuholen und zu der von Uschi angemieteten Unterkunft zu bringen.
 
„Mama Uschi“ nennen sie die Flüchtlinge. Und sicher ist sie das auch: Wie eine Mutter, die sich um die Menschen in Not sorgt, Unterstützung bietet, wo sie am dringendsten gebraucht wird, aber auch klare Regeln setzt. Dabei geht es nicht um Erziehung des Einzelnen, nicht mal um Integration in die griechische Gesellschaft, sondern um das Wohl aller und des Projektes. Denn die griechische Polizei beendet die Tätigkeit von Hilfsorganisationen sofort, wenn zum Beispiel nicht registrierte Flüchtlinge in den von ihr angemieteten Wohnungen unterschlüpfen. Und damit wäre nicht nur für die aktuellen Bewohner die Zufluchtsmöglichkeit beendet.
 
Aber das ist nicht die einzige Gefahr für das einzige Housing-Projekt auf Samos. Es gibt so viele Krisen auf dieser Welt, die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich ab und damit häufig auch das Interesse der Spender. Und auf Spenden ist das Projekt zu 100 % angewiesen. Staatliche Unterstützung gibt es nicht. Freilich geht es nicht darum, dass sich die Krisen Konkurrenz machen sollen. Vielmehr geht es darum, dass die Krise an der europäischen Außengrenze längst nicht beendet ist. Ob wir das in Deutschland und dem Rest der Welt wissen oder nicht.
 
Immer wieder wird sie von Menschen außerhalb von Griechenland gefragt: Kommen denn überhaupt noch Flüchtlinge? Man hört ja gar nichts mehr. Laut Aegean Boat Report waren es 2022 rund 11.500 Menschen, die mit kleinen, überfüllten Booten über das Meer auf die griechischen Inseln gekommen sind. Irregulär oder illegal, wie es heißt, denn eine legale Einreisemöglichkeit gibt es für kaum einen Flüchtling außerhalb der Ukraine nach Europa. 11.500 Menschen, die im Lager auch tatsächlich angekommen sind. Das ist die erste Stelle, wohin Menschen von der Küstenwache oder Polizei auf der Insel gebracht werden müssten. Um registriert zu werden, versorgt zu werden, in Quarantäne zu gehen und den Asylprozess zu starten. Im gleichen Zeitraum sind jedoch 26.133 Menschen nicht angekommen, sondern per Pushback – illegalen Pushbacks, die gegen die Menschenrechte verstoßen – zurück in die Türkei geschickt worden.
 
Bei Uschi im Projekt kommen die Menschen erst an, wenn sie den Asylprozess fast abgeschlossen haben. Bei fast allem Menschen, die sie betreut, wurde der Antrag anerkannt und sie warten auf ihre offiziellen Papiere, um die Insel verlassen zu können. Denn das wollen fast alle. Wie lange so ein Prozess dauern können, von Ankunft am Strand bis zum Ausweis, der den Schengenraum zumindest für Reisen öffnet? Uschi sagt, das wisse man nicht. Es ginge im letzten Jahr deutlich schneller. Oft hätten Menschen früher bis zu zwei Jahre auf die erste Anhörung im Camp warten müssen. Heute kann es in wenigen Monaten geschafft sein. Aber wie lange man dann ohne Unterstützung auf die Papiere warten müsse, ist für die Betroffenen und auch für Uschi offen. Das sei nicht vorhersehbar. Wochen, manchmal Monate, wenn es Probleme gibt, auch mal Jahre, in denen man die Insel nicht verlassen darf.
 

Uschi bekommt einen Anruf von MSF, der französischen Sektion der Ärzte ohne Grenzen, der letzten verbliebenen NGO, die Menschen kostenfrei medizinisch und manchmal, wenn Zeit ist, auch psychologisch versorgt. Denn: auch die NGOs sind weitergezogen oder haben sich aufgelöst. Waren es in 2016 rund 60, die auf der Insel für alles Mögliche gesorgt haben, sind es aktuell vielleicht noch 12. Inklusive Rechtsberatung und eben medizinischer Versorgung. Und Space-Eye-Hellas mit Uschis Housing-Projekt.

 

 
 
MSF ruft also an. Sie hätten einen besonders schwierigen Fall. Ob Uschi helfen könne. Eine Mutter mit einer Tochter im Teenageralter. Die jüngere Tochter hat die Überfahrt nicht überlebt. Sie fiel nahe dem rettenden Strand von Samos ins Wasser, wurde abgetrieben, ist ertrunken. Uschi setzt sich in Bewegung, sie muss eine Unterkunft für Mutter und Tochter finden, noch am gleichen Abend, sie sollen nicht länger im Camp bleiben. Dort waren sie einige Wochen nach dem schrecklichen Ereignis und haben auf die Anerkennung – wie alle anderen – warten müssen.
 
Ob Uschi manchmal erschöpft ist? Wir wissen es nicht, anzumerken ist es ihr nicht. Sie macht einfach, was sie für richtig hält. Zieht eine klare Grenze zwischen Gleichbehandlung, wo alle das Gleiche bekommen und Fairness, wo es darum geht, zu sehen, wer was nötig hat. Und Uschi achtet darauf, was nötig ist. Nicht immer ist es mit Geld zu besorgen. Aber oft eben schon. Das Budget ist eng bemessen, Uschi haushaltet mit klarem Verstand und unfassbar gutem Überblick. Sie weiß, wie man mit wenig auskommt und Löcher stopft.
 
Was sie frustriert? Das sich nichts wirklich geändert hat über all die Jahre. Menschen kommen und gehen, sitzen in Camps unter fragwürdigen Umständen fest und wissen danach auch nicht wirklich weiter. Ob sie darüber nachdenkt aufzugeben? Nein, Aufgeben ist nicht Uschis Ding. Zu viele werden auch in der Zukunft auf sie angewiesen sein. Auf ihre Hilfe, ihren Pragmatismus und ihre Menschlichkeit. Und für jeden Einzelnen wird es einen Unterschied machen, sie kennengelernt zu haben.
 
Das Housing-Projekt soll weitergehen! Sie möchten Space-Eye-Hellas unterstützen?