Unsere Managerin in Athen: Marie-Thérèse

Unsere Managerin in Athen: Marie-Thérèse

Von Beatrix Szabo

Junge Männer sprechen mit ihr über nie Gesprochenes, Folter und Gewalt vom Krieg in Syrien und Afghanistan. Marie-Thérèse, die Sozialarbeiterin bei Space-Eye Hellas, arbeitet zusammen mit Uschi Wohlgefahrt im Housing Projekt in Athen und begleitet geflüchtete Menschen.

„Manche von ihnen kommen für zwei bis drei Wochen, ziehen weiter“, sagt sie. Marie-Thérèse kommt aus dem Libanon, hat griechische Wurzeln und spricht fünf Sprachen. Das ermöglicht ihr auch den Kontakt zu Fatou, die mit ihren fünf Kindern aus dem Kongo geflüchtet ist und nun von Space-Eye Hellas unterstützt wird. Dort wird sie von der Familie umarmt und herzlich begrüßt. Bei ihrem Besuch erfährt sie, dass die Kinder Schuhe brauchen und organisiert über Attika Human Support alles Nötige.

Sie unterstützt beim Ausfüllen der Papiere, hilft den Kindern beim Start in die Schule und ist mit offenem Ohr und großem Herzen Ansprechpartnerin für die Sorgen und Ängste vieler geflüchteter Menschen. Sie kennt das aus ihrem Land, hat es selbst erlebt. „Vor einigen Tagen habe ich eine Frau aus Afghanistan mit einem zweijährigen Kind auf der Straße gesehen und habe eine Wohnung für sie gefunden“, sagt sie. Ich frage nicht, ob sie Papiere haben. Die Not wird immer größer, denn Geflüchtete, die eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben, werden aus den Camps entlassen und fallen nach 30 Tagen aus der Versorgung. Sie stehen dann auf der Straße mit nichts.

Und das Elend wächst weiter, denn Ende Dezember wird das Eleonas Camp geschlossen. Dort leben zur Zeit 2500 dort Menschen. „Wo werden sie leben? Niemand weiß es“. Space-Eye setzt sich auch dort ein. Zusammen mit Attika Human Support sorgen wir dafür, dass so viele Menschen wie möglich mit dem Nötigsten versorgt werden.

Nasima und Aziz: Warten, warten, warten

Nasima und Aziz: Warten, warten, warten

Von Ursula Wohlgefahrt („Mama Uschi“), Samos)

Warten, warten und sich die Zeit in Samos mit Fischen vertreiben, das tut Aziz. Seine Frau Nasima kommt nach dem Frauennachmittag bei einer Frauenorganisation zu ihm ans Meer.
Gemeinsam schauen sie hinaus aufs Meer. Aziz steckt ein neues Brotstückchen als Köder an die Angel und wirft sie nochmals aus. Vielleicht beißt jetzt einer an. Fürs Abendessen haben sie sonst, außer etwas Reis, noch nichts.

Aziz und Nasima kommen beide aus Afghanistan und haben in Samos Asyl erhalten. Die gute Nachricht erreichte sie, als sie bereits im neuen Camp waren. Im neuen Camp in Samos, dem halb geschlossenen Zervou-Camp, mitten auf der Insel, waren sie nur kurz. Gefallen hat es ihnen dort sehr gut. Es hat ihnen an nichts gemangelt. Beim positiven Asylentscheid kam die Aufforderung, das Camp zu verlassen und in ein Lager nach Kavala zu ziehen, was sie getan haben. Zügig schritten die Asylbehörden voran und übergaben ihnen innerhalb Monatsfrist ihre Pässe in Kavala. Doch die Freude währte nur kurz: Die Pässe enthielten Fehler in den Namen. Diese Fehler konnten sie nicht akzeptieren, weil die Namen nicht mit ihrer ID-Karte, der Bestätigung des griechischen Steueramtes und der Krankenkasse AMKA übereinstimmten. Für die Korrektur der Pässe wurden sie wieder an ihren Erstempfangsort in Europa, Samos, zurückgeschickt. Die Asylbehörde hat für solche Fälle keine Lösung. Die aufgenommenen Flüchtlinge sind sich selbst überlassen und müssen schauen, wie sie wieder nach Samos kommen, wo sie wohnen und wie sie zu neuen Pässen kommen. Eine Nacht haben sie in einer Bucht am Meer übernachtet. Durch eine afghanische Familie in unserem Projekt wurde ich auf die beiden aufmerksam gemacht. Meine Antwort war: „Unser Projekt ist voll“. „Können wir die beiden zu uns nehmen? Sie könnten doch in unserem Wohnzimmer schlafen?“ war die Antwort dieser Familie. So viel Offenheit und Spontanität findet man nicht oft. Gerne stimmte ich dem Anliegen zu. Nun wohnen Aziz und Nasima bei ihnen und sind glücklich, doch noch Obdach erhalten zu haben.

Aziz und Nasima kommen aus Mazar-e Scharif, der größten Stadt Afghanistans. Sie lebten im Stadtteil Kalak. Aziz arbeitete im Hochbaugewerbe. Nasima war Hausfrau. Sie hatte keinen Beruf gelernt und durfte das Haus nicht verlassen – wegen der Taliban. Die Angst, durch die Taliban zurechtgewiesen, misshandelt oder getötet zu werden, besteht in dieser Stadt seit sieben Jahren. Aziz hat nie Militärdienst geleistet. Die Taliban wollten ihn immer wieder fürs Militär rekrutieren, aber er wollte nicht. Wegen Verweigerung der Rekrutierung ist ein Bruder von Nasima von den Taliban ermordet worden. Aziz konnte diesen Druck nicht länger ertragen. Er floh mit seiner Frau über den Iran in die Türkei. Dies ärgerte die Taliban so sehr, dass sie aus Rache einer seiner Brüder und einen nahen Verwandten ermordeten.

Seit sechs Jahren sind Aziz und Nasima verheiratet. Sie haben keine Kinder. Nasima war mehrmals schwanger. In Afghanistan hat sie ein Baby im achten Monat verloren. Als die Taliban ihr Haus gestürmt haben, konnte sie durch eine Hintertüre entrinnen. Auf der Flucht haben sich ihre Beine im langen Gewand der Burka verfangen und sie ist gestolpert und auf ihren Babybauch gefallen und hat danach das Baby verloren. Nasima musste in der Öffentlichkeit immer eine Burka tragen. Mit ihrem Mann hat sie nur selten das Haus verlassen, etwa um Verwandtenbesuche zu machen, oder um mit ihm zum Einkaufen zu gehen. Bevor sie verheiratet war, war ihr Vater ihr ständiger Begleiter in der Öffentlichkeit.

„Hier ist ein so viel besseres Leben für mich“, strahlt Nasima glücklich. Sie vermisst aber ihre Familie. Auch ihr Mann ist glücklich, dass sie sich hier so frei bewegen können und er freut sich für und mit seiner Frau. Aziz ist so froh, hier in Europa zu sein und keine Angst mehr haben zu müssen. Das Ehepaar möchte auch nach Deutschland, wenn es möglich wäre. Hier auf Samos hatten sie keine Hilfe gefunden, weder für Sprachunterricht, noch hat ihnen jemand eine Arbeit vermitteln können. Selbst die Hotels und Geschäfte abzuklappern (auf Farsi) ist ein Ding der Unmöglichkeit, um nach Arbeit nachzufragen. Nun starten sie nächste Woche mit dem Griechischunterricht bei Annie, der älteren Dame aus Frankreich, falls sie doch in Griechenland bleiben. Gerne möchte Nasima in Zukunft als Schneiderin arbeiten.

Aziz fischt heute zum Zeitvertreib und um den Speiseplan zu bereichern. Er macht dies jeden Tag. In Afghanistan war dies nicht möglich, dort gab es keinen Fluss oder See. Aziz liebt jede Arbeit, nur nicht zu Hause bleiben. Er muss immer etwas tun.

Beide bedanken sich für die Aufnahme im Mehrfamilienhaus von Space-Eye herzlich und senden beste Grüße an alle Spender nach Deutschland, die dieses Projekt möglich machen.

„Uschi“

Ursula Wohlgefahrt lebt auf Samos und kümmert sich „hauptamtlich“ um gestrandete Flüchtlinge – Menschen, die zwar eine Anerkennung als Asylberechtigte haben, aber kein Geld, keine Unterkunft und keine Ausreisepapiere. Für Space-Eye betreibt „Uschi“ die Housing-Projekte auf Samos, Lesbos und Athen.

Makeda und Nardos: Hoffnung auf Leben anstatt überleben

Makeda und Nardos: Hoffnung auf Leben anstatt überleben

Es ist ein schöner Tag, ein ruhige Brise zieht durch das Hafenstädtchen, und die Menschen sehen frisch und entspannt aus. Ich sitze im Café und warte auf Makeda und Nardos, zwei Frauen aus Eritrea, um mit ihnen über ihre Geschichte zu sprechen.

Als die beiden heute im Café ankommen, freuen sie sich sichtlich – wir konnten über das Athen-Projekt von Space-Eye eine Bleibe für Nardos finden, sodass die beiden zusammen bleiben können und die Fähre nach Athen gemeinsam nehmen. Ein Lichtblick.

Wir trinken einen Kaffee und erzählen.

Nardos ist die ältere der beiden Frauen. Sie kann sich mit niemandem verständigen, wenn Makeda nicht für sie übersetzt, denn sie spricht eine eritreische Sprache. Ich erfahre, dass Nardos an Epilepsie leidet, sie ist berufsunfähig und seelisch gebrechlich und alleine. Sie bricht in Tränen aus, Tränen blanker Angst. Beide wischen die Tränen schnell weg, als sei Weinen nicht erlaubt und nur ein Ausdruck von Schwäche. Schwäche kann sich hier keiner leisten. Doch Nardos kann ihren Zustand nicht verbergen, ihre Gesichtszüge erscheinen mir, als ob sie das Lachen verlernt habe und Leere ihr Wesen beherrscht.

Die beiden Frauen sind hier eine Symbiose eingegangen, sie helfen sich gegenseitig beim Überleben. Doch Nardos braucht Makeda mehr, als anders herum – das wurde mir dort klar.

Makedas Eltern kommen aus Eritrea, doch sie sind aufgrund des Krieges nach Äthiopien geflohen, dort ist Makeda geboren. Sie war das einzige Kind. Ihr Vater ist vor ihrer Geburt gefallen, und ihre Mutter starb als sie 16 war nach einer schlimmen Krankheit. Das Kind blieb mutterseelenallein zurück auf der Welt. Als Flüchtlingskind hatte sie nie einen Pass in Äthiopien bekommen, noch durfte sie zur Schule gehen, sie war Staaten- und mittellos. Damit Makeda nicht auf der Straße landen würde, holte sie ihre Tante zurück nach Eritrea, wo sie schlussendlich an einen alten Mann verheiratet werden sollte. Doch das war nicht ihr Leben! Die Wut ist ihr noch heute anzusehen.

Sie entschied sich abzuhauen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. So floh sie über den Sudan in den Libanon, wo sie als Hausmädchen für reiche Libanesen arbeiten sollte. Doch als sich die Bedingungen wie Sklaverei herausstellten und Makeda nie einen Lohn für ihre Arbeit bekam, entschied sie sich auszubrechen. Durch Taglöhnerarbeit konnte sie sich über ein paar Jahre das nötige ansparen, um die Flucht nach Europa zu organisieren.

Makeda ist eine starke junge Frau, ihre Lebensgeschichte hat sie gelehrt, resolut und in Selbstvertrauen Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen. Es war ihr klar, in den arabischen Staaten sollte sie als schwarze Frau nie Chancen auf ein gleichberechtigtes Leben haben.

Die Fluchtroute verlief über Syrien, die Türkei und schließlich im Boot nach Samos. Sie erzählt mir schwer schluckend, sie hätte die ganze Überfahrt geweint, und bis heute verabscheut sie das Meer.

Im überfüllten Camp in Samos lebte sie nun unter widrigen Umständen im Wald und in ständiger Angst, man(n) würde ihr als Frau alleine etwas antun. Verständlich. Dann erhellt sich ihr Gesicht und sie erzählt mir, wie sie Mama Uschi kennenlernte, die ihr als einzige hier wirklich half und sie in das Space-Eye-Programm aufnahm. In der Frauen-WG mit Nardos konnte sie jetzt ein paar ruhige Wochen verbringen, gesundes Essen kochen, duschen und die nächsten Schritte organisieren.

Abschließend erzählt mir Makeda, ihr großer Traum sei London. Dort werde sie einen guten, netten Mann kennenlernen, heiraten und vier gesunde Kinder bekommen – und glücklich sein. Makeda schmunzelt, das wäre wirklich schön. Das soll ihr Leben sein.

Ob Nardos eines Tages vom Überleben zum Leben kommen wird, bleibt ungewiss. Ihr Wunsch ist es irgendwo zu landen, wo eine gute medizinische Versorgung gegeben ist.

Wir wünschen den Beiden das Beste!

Ich bin nach Samos geschwommen

Ich bin nach Samos geschwommen

13 Mal hat er es versucht, mit einem Boot von der Türkei auf eine Aegäis-Insel zu kommen. 13 Mal wurde das Boot, in dem er saß, von einer Küstenwache abgefangen, oder sie mussten aus widrigen Umständen wieder umkehren. Dann hatte der 19-jährige Palästinenser Hema aus der Stadt El Nuserat (Gaza) einfach genug. Seine Familie konnte kein Geld mehr für ihn beschaffen und er stand vor der Frage: Zurück in den Gaza? Geht nicht mehr! In der Türkei bleiben: will er nicht. Er möchte nach Europa, um seinen Traum vom professionellen Fußballspieler zu verwirklichen. Also was dann? Schwimmen! Ja, das ist wohl noch die letzte Lösung. Als gut durchtrainierter Sportstudent wagte er es, zusammen mit seinem Freund Ahmed.

Sie reisten von Izmir nach Kusadasi.  Von dort machten sich Hema und Ahmed zu Fuß auf, der Küste entlang gegen Süden bis nach Güzelçamli, wo sie eine Rast einlegten.  Am Abend des 22. Juli 2021, bei der Dämmerung, gingen sie ein letztes Stück zu Fuß bis kurz vor den Eingang des Nationalparks. Nach einer letzten Rast am Ufer des Meeres zogen sie die Kleider und die Schuhe aus, verstauten ein paar Kleider, Papiere und das restliche Geld und ein Telefon in einem Plastiksack und klebten den Plastiksack auf den Leib, sodass er sie beim Schwimmen möglichst nicht störte. Sie versteckten ihre Rucksäcke und Schuhe im Gebüsch, sprachen ein letztes Mal die Al Fathia, umarmten sich und schwammen los in Richtung Samos.

Ahmed ist ebenfalls ein gut durchtrainierter Sportler, anders hätten sie es sonst nicht wagen können. Doch diese Stecke ist mehr als nur mutig. Sie ist eine Meisterleistung. Ein feiner Wind kam von Norden. Sie mussten gegen Südwesten schwimmen. Das Schwimmen raubte ihnen alle Kraft. Nach Mitternacht dachten sie, dass ihr Unterfangen scheitern werde und sie versuchten, auf sich aufmerksam zu machen und die vorbeifahrenden Boote der Küstenwache zu stoppen. Aber ohne Erfolg. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, ertrinken oder weiter schwimmen. Sie schwammen. Mehr als einmal dachten sie, es sei nun ihr letzter Schwimmzug gewesen, mehr gehe einfach nicht mehr. In der Morgendämmerung erreichten sie die Felsen der Bucht von Sidera. Total erschöpft. Die Strömung hatte sie mehr nach Südwesten getragen, als sie planten. Nun mussten sie entweder gegen die Strömung in die Bucht schwimmen, oder über die Felsen etwa 20 Meter rauf klettern. Sie entschieden sich fürs Klettern, um endlich aus dem Wasser zu kommen. Oben angelangt suchten sie sich ein Plätzchen unter einem Baum aus und schliefen völlig erschöpft zwei Stunden. Gegen sechs Uhr machten sie sich auf den Weg, 14 km der geteerten Straße entlang. Müde, ohne Essen und Trinken, ohne die Möglichkeit, etwas Wasser an einem Brunnen unterwegs zu finden, schleppten sie sich viereinhalb Stunden mühsam bis zum alten Camp. Völlig entkräftet kamen sie an.

Die Anerkennung als Flüchtlinge haben Hema und Ahmed dann sehr schnell erhalten. Bereits nach einer Woche wurden sie zum ersten Interview eingeladen, und Mitte Oktober konnte Hema den Pass abholen. Palästinenser werden in Griechenland mit Vorzug behandelt. Andere Nationen müssen da länger warten.

Hema lebte bis zur Auflösung des alten Camps im Dschungel, dann durfte er in die Männer-WG einziehen und half unserem Abdo bei Reinigungs- und Unterhaltsarbeiten. Er war sehr dankbar für jede Hilfe.

Nun wollte er zu seinem Vater nach Deutschland gehen. Dieser war zuvor alleine geflüchtet. Er ist in Deutschland seit zwei Jahren, wo er bei der Bahn als Sicherheitsbeamter in Teilzeit arbeitet. Er war bis 2006 bei der Polizei tätig, bis die Hamas den Gaza übernahm und alle Leute der Al Fathy-Partei verloren die Arbeit. Von da an lebte die 10-köpfige Familie von Hema von Spenden des UNHCR.  Der Vater wollte an dieser Situation etwas ändern. Der Sohn ist ihm nun gefolgt.

Am 22. Oktober erhielt ich eine Videobotschaft aus Deutschland: Vater und Sohn vereint. „Tausend Dank an Space-Eye liebe Mama! Nun bin ich bei meinem Vater in Deutschland!“

Ich werde an dieser Lebensgeschichte dran bleiben und bin gespannt, ob es Hema gelingt, im Profifußball Karriere zu machen. Vielleicht hören wir mal von einem Sportreporter: „Tor, Tor! … Hema schießt in der 89. Minute das Siegestor für Deutschland!“ Den Willen dazu hat er. Das hat er uns bewiesen.

 

 

 

„Uschi“

Ursula Wohlgefahrt lebt auf Samos und kümmert sich „hauptamtlich“ um gestrandete Flüchtlinge – Menschen, die zwar eine Anerkennung als Asylberechtigte haben, aber kein Geld, keine Unterkunft und keine Ausreisepapiere. Für Space-Eye betreibt „Uschi“ auf Samos, Lesbos und in Athen Housing-Projekte, die schon hunderten Menschen Unterkunft geboten haben.

Eine schicksalhafte Fehlentscheidung

Eine schicksalhafte Fehlentscheidung

Von Johanna Albrecht

Es ist Mittwoch, der Tag nach dem ersten Regen des beginnenden Herbsts auf Samos. Ich bin mit Fadil in einer griechischen Pizzeria am Piazza verabredet, um über sein Leben und seine Träume zu sprechen, woher kommt er und was treibt ihn hierher. Fadil wohnt seit Juni in einem kleinen Einzimmerappartment, angemietet von Space-Eye.

 

Fadil sieht angeschlagen aus, ihm geht es offensichtlich nicht gut. Seine Augen sind zugeschwollen, sein Körper ist von Sorgen gezeichnet. Damit wir uns besser verständigen können, kommt ein Freund hinzu, der besseres Englisch spricht. Die beiden erzählen mir, dass sie aus Palästina kommen. Wo ihre Eltern lebten, dort sei nun Israel, so wuchsen sie im Flüchtlingscamp in Gaza auf. Fadil hat fünf Brüder und vier Schwestern, und seine Eltern waren sehr streng. Gaza bietet nicht viel für Kinder, nach der Schule spielten sie mit Sand bis in die Nacht. „Den Eltern gehört unser Fleisch und die Knochen gehören den Lehrern“, erzählt Fadil mit einem Grinsen. Die Schule war hart, Bildung ist der einzige Ausweg, das wissen alle in Gaza. Fadil hat sein Päckchen des Schicksals früh bekommen, er und ein Bruder leiden seit dem Kindesalter an Leukämie. Für Fälle wie diesen gibt es in Gaza keine Therapiemöglichkeiten, geschweige denn Hoffnung.

Fadil gab nicht auf. Damals, erzählt er, war er ein junger gut aussehender Mann, dank Gott fand er eine Frau. Die beiden haben zwei Kinder zur Welt gebracht, ein Mädchen und ein Junge, beide gesund.

Als sich 2014 die Situation zwischen Gaza und Israel verschärfte, wurde das wenige, was die Familie besaß, vollends zerstört, sie wurden obdachlos. Durch Fadils Krankheitsgeschichte und die Vertreibung der Familie, wurde ihnen eine legale Ausreise nach Ägypten ermöglicht. In Kairo angekommen verkaufte Fadil die Ziegen, die Mitgift seiner Frau, um die Kosten für seine Behandlung und eine kleine Wohnung für seine Frau und die Kinder anzumieten. Er verbrachte ganze zwei Jahre im Krankenhaus, er brachte drei onkologische Behandlungen und zwei Operationen hinter sich. Ohne Einkommen hatten sie nichts zu essen und konnten die Kosten für seine Behandlung nicht weiter bezahlen.

Die Lage der Familie war prekär und die Verzweiflung war wie eine schwarze Wolke, die ihm das Licht nahm. Wenn er leben wolle, so beteuert er, war seine einzige Möglichkeit Europa. Dies wird sich im Weiteren als die größte Fehlentscheidung seines Lebens herausstellen, doch dazu kommen wir noch.

Fadil machte sich alleine auf den Weg und ließ seine Familie zurück, dies war vor fünf Jahren. Mit Hilfe kam er es bis nach Istanbul. Dort traf er eine Syrerin, die ihn in ihrer Textilfabrik zwischen den Maschinen auf dem Boden schlafen ließ. Dafür dass er nachts aufpasste, bekam er einen kleinen Lohn. Über sieben Monate konnte Fadil etwas ansparen.

Was dann folgte, ist die übliche Prozedur, von der mir jeder hier erzählt: Bewaffnete Schlepper, ein Schlauchboot – 8 m x 2 m – mit viel zu vielen Menschen, große Angst und Gottvertrauen. Sie brachen in der Nacht auf an der türkischen Küste und im Morgengrauen wurde das Boot von der griechischen Polizei erfasst. Nur weil viele Kinder und Frauen an Board waren, so erzählt er, wurden sie an Land gezogen und haben die Küste von Samos erreicht, die Außengrenze Europas übertreten. Sie hatten es geschafft, das war im November 2019.

Alle wurden umgehend zum Camp gebracht, und was sie dort erwartete, ist den meisten Europäern aus den Medien bereits bekannt. Die Erzählung von Fadil über die unwürdigen Zustände, die Erfahrung aus erster Hand, gehen mir trotzdem unter die Haut. Es ist schwer zu begreifen, dass dies mein Europa sein soll, an das ich glauben will. Europa hat viele Gesichter, das Gesicht der griechischen Flüchtlingspolitik erscheint mir wie eine unbarmherzige Fratze.

Nach 13 Monaten im Camp schließlich konnte ein Freund Fadil an „Mama Uschi“ von Space-Eye vermitteln. Sie half ihm und brachte ihn in einem kleinen Apartment mit Küche und Bad unter, wo er seit langem wieder Ruhe und Schlaf finden konnte. Er teilt sich das kleine Apartment mit einem anderen Geflüchteten. Die beiden zeigen große Dankbarkeit für diese Geste.

Fadil benötigt Medikamente. Ohne die richtige Behandlung werden seine Tage gezählt sein, doch er erzählt mir, er lehne die Behandlung in Griechenland ab. Er wolle nur in Deutschland behandelt werden. Seit ein paar Wochen hat er Papiere, eine ID und einen Pass, er könnte nun weiterziehen und sein Glück suchen. Doch bevor er wegkann, und daran glaubt er eigentlich selbst nicht mehr, möchte er seine Familie zu sich holen.

Im Februar (heute haben wir September 2021) erhielt Fadil die Zusage der ägyptischen Behörden, dass seine Frau und seine Kinder nachkommen dürften. Doch die griechische Botschaft in Ägypten verzögere oder verweigere seinen Fall.

Unser Gespräch wird nun sehr schwer und melancholisch. Fadil hat alles versucht, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Hebel in Bewegung gesetzt – jetzt kann er nur noch warten. Und das tut er seit Monaten, warten und den Mut verlieren.

Nun sitzt er hier, todkrank, alleine in Europa.

Er ist ein verzweifelter und gebrochener Mann. Er will seine Kinder noch einmal sehen, das ist sein größter Traum und sein letzter Wunsch. Doch ich sehe ihm an, dass seine Hoffnung fast erloschen ist. Wir wissen beide, dass sie nicht mehr kommen werden.

Ich blicke aufs Meer und fühle Trauer. Was für eine Fehlentscheidung.