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Crying is finished now

Samia sitzt auf ihrem Bett in einem Container im Flüchtlingscamp auf Lesbos. Sie hat uns erwartet, wir waren gestern schon hier. Mussten wieder gehen, weil die Übersetzerin nicht gekommen ist. Heute aber klappt alles. Die Übersetzerin ist da, Samia auch. Aber das ist keine Überraschung, denn Samia verlässt ihren Container fast nie.

Samia kommt aus Somalia. Sie ist Anfang 40. Das haben wir den Unterlagen entnommen, ihr Aussehen deutet auf eine deutlich ältere Frau hin. Als Kind in Somalia erkrankt Samia an Kinderlähmung. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob daher ihre Gehbehinderung kommt. Ein Bein ist fünf Zentimeter kürzer als das andere. Durch die vielen Jahre der fehlenden Hilfsmittel und den weiten Weg, den sie zurückgelegt hat, hat dies Auswirkungen auf ihren gesamten Körper. Es kommen auch Misshandlungen und ein Attentat zur Sprache, aber tiefer geht sie nicht darauf ein.

8.00 morgens, jeden Morgen. Samia steht auf, sie macht sich so gut es geht fertig und wartet darauf, dass eine andere Flüchtlingsfrau kommt, um mit ihr zur Toilette zu gehen. Im Container gibt es kein Badezimmer, nicht mal fließendes Wasser. Gehen kann Samia kaum, wenn dann nur sehr, sehr langsam. Mit einem Rollstuhl im Camp? Das ist so gut wie ausgeschlossen. Alle Wege sind geschottert, Barrierefreiheit gibt es nicht. Ungefähr eine Stunde dauert es, bis sie zurück ist, sagt sie.

11.00 Samia frühstückt spät. Das mache sie absichtlich so, sagt sie uns. Dann könne sie eine Mahlzeit ausfallen lassen und brauche niemanden zu bitten, sich für sie anzustellen. Da gäbe es einfach zu oft Probleme und die Schlange an der Essensausgabe im Camp sei sehr lang. Selbst anstellen kann sie sich nicht.

Was sie danach mache, fragen wir. Nichts, antwortet sie. Aufräumen. Sie habe ein Buch. Manchmal lesen. Manchmal ihren Bruder anrufen. Aber eigentlich: nichts.

16.00 Essenszeit, ein anderer Campbewohner bringt ihr später etwas vorbei. Und danach: nichts, bis zum Schlafengehen um 22.00 Uhr. Manchmal bekommt sie Besuch, dann freut sie sich.

Im Container gibt es nur die Basics. Oder besser gesagt: ein Basic – das Bett. Keinen Schrank, keinen Tisch, aus Holzabfällen hat ihr jemand zwei Hocker gebastelt. Doch alles ist sauber und ordentlich. Auch sie selbst wirkt gepflegt. Hat bunte Tücher um sich geschlungen. Wenige Gegenstände sind an der Containerwand aufgereiht, ihre Kleider auf dem oberen Bett verstaut. Ihre Bettnachbarin ist neu im Camp. Hat sich bei der Ankunft einen komplizierten Bruch zugezogen und musste operiert werden. Sie benutzt jetzt Samias Toilettenstuhl.

Samia versucht so wenig wie möglich zu trinken. Dann muss sie selten zur Toilette. Denn manchmal kann niemand helfen, dorthin zu kommen. Und das ist dann ganz schrecklich, sagt sie.

Seit vier Jahren ist sie in Griechenland und auf Lesbos. Hat Moria miterlebt. Und Kara Tepe, wo die Zustände etwas besser waren. Und jetzt hier das neue Camp am Meer. Hat im Zelt gelebt und in Containern, manchmal sehr beengt, manchmal wie jetzt, nur zu zweit. Vier Jahre von einem Camp ins andere. Als das große Feuer in Moria ausgebrochen sei, habe man sie als letzte gerettet. Und dabei habe sie Glück gehabt, bei kleineren Feuern habe man sie öfter sogar vergessen in ihrem Container. Sie sagt das nicht zynisch, gar nicht. Mehr so, als sei es tatsächlich ein Glück.

Wer denn von den Offiziellen und NGOs nach ihr schaue, fragen wir sie. No Government, no NGO, sagt sie. Nur Fabiola komme immer vorbei, wenn sie Zeit habe. Man spürt, wie eng sie sich Fabiola verbunden fühlt. Sucht immer wieder nach ihrer Hand, während sie spricht.

Samia ist in einem asylrechtlichen Limbo. Ihr erster Antrag auf Asyl wurde vor Jahren abgelehnt. Zu Beginn haben sich noch Anwälte gekümmert. Jetzt nicht mehr. Ein europäisches Land hätte sie mit humanitärem Visum aufnehmen wollen. Auch wegen der schrecklichen Dinge, die ihr auf der Flucht passiert seien, weil sie nicht weglaufen konnte. Aber als man die Unterlagen genauer gelesen habe, habe man den Antrag abgelehnt. Gefahr von baldiger Pflegebedürftigkeit. So, oder so ähnlich. Auch das ist Jahre her.

Wie mag sie den Weg von Somalia hierher geschafft haben? Familie hat sie keine dabei. Und auch sonst niemanden, der ihr besonders verbunden zu sein scheint. Vielleicht sind diejenigen, die ihr geholfen haben, aber längst weitergezogen. Man kann nicht warten, wenn der eigene Antrag entschieden ist. Man darf nicht mal, wenn man es möchte. Die Übersetzerin, selbst Flüchtling im Camp, scheint mit ihr vertraut zu sein. Übersetzt ruhig und leise ins Englische. Übersetzt uns eine der trostlosesten Geschichten, die wir bisher gehört haben.

Fabiola, Gründerin von Earth Medicine, die von Space-Eye unterstützt wird, gibt auch hier nicht auf. Immer wieder schmiedet sie Pläne. Gerade hat sie Spenden für Gehhilfen gesammelt. Aber dafür muss Samia nach Athen, auf der Insel kann sie niemand vermessen. Aber Samia darf das Lager und die Insel nicht einfach verlassen. Oder vielleicht verlassen, aber dann nicht zurückkommen und was dann? Ohne Entscheidung, ohne Unterkunft, ohne Versorgung. Und illegal auf dem Festland. Fabiola verspricht, sich um eine Sondergenehmigung zu kümmern.

Ob sie etwas froh mache, fragen wir. Im Camp? Fragt sie zurück, als wenn es auch ein anderes Leben für sie gäbe. Im Camp macht mich Fabiola froh. Und dass ich mich doch ganz gut alleine versorgen kann, sagt sie.

Die ersten Jahre habe sie viel geweint, sagt Samia. Nur im Bett gelegen und geweint. Aber „Crying is finished now!“, sagt sie. Du musst Dich entscheiden, ob Du traurig, wütend oder hoffnungsvoll sein willst. Und dann musst Du es auch zeigen. Wie zur Bestätigung hat sie eine Mütze aus einer Kleiderspende auf dem Kopf. Smile.

Mehr über das Thema Flucht und Somalia erfahren?https://www.ted.com/talks/benedetta_berti_and_evelien_borgman_what_does_it_mean_to_be_a_refugee_jan_2018

https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2011-4/somalia-flucht-und-furcht-ohne-ende

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