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Ich möchte für einen Tag Touristin sein

Fatma ist eine der Ersten, die ich auf Samos kennenlerne. Sie ist gerade zwanzig Jahre alt und seitdem sie elf ist, ist sie unterwegs. Heute hat sie Aufenthalt in Griechenland und arbeitet als Übersetzerin bei einer NGO, die ärztliche Versorgung für Camp-Bewohner und Flüchtlinge auf der Insel Samos anbietet. Sie sagt, es sei ein wunderschöner Moment gewesen, als sie die Zusage hierfür erhalten habe. Fatma wird von dem Housing-Projekt von Space-Eye Hellas unterstützt.

Fatma hilft auch mir bei Übersetzungen für Space-Eye, und so verbringen wir immer wieder Zeit miteinander. Fatma ist einfühlsame Übersetzerin, interpretiert nicht, fragt lieber zweimal nach, wenn etwas nicht ganz klar ist. „Manchmal ist es sehr schwer für mich“, sagt sie, „ich habe Englisch auch erst hier gelernt, eine Schule konnte ich so gut wie gar nicht besuchen in meinem bisherigen Leben“.

Fatma erinnert sich an die Nacht in Syrien, als sie mit ihren jüngeren Geschwistern im Innenhof des geräumigen Hauses spielt. Es ist Ramadan und alle sind lange wach. Sie wohnen mitten in der Stadt, und bisher hat es nur Angriffe weiter entfernt gegeben. In dieser Nacht aber hört sie den Helikopter, der näher kommt. Und sie hört das sirrende Geräusch als er die Bombe abwirft. Dieses Geräusch verfolgt sie noch heute in den Träumen.

Alle sind zu Hause, aber wie durch ein Wunder wird nur Fatma selbst leicht verletzt, muss im Krankenhaus genäht werden. „Nichts Schlimmes“, sagt sie, „nur ein paar Schnitte im Gesicht.“ Aber das Haus gibt es nicht mehr. Alles ist zerstört, sie können nicht mal das Nötigste herausholen. Ihre Mutter hatte ihren Brautschmuck an, deshalb konnten sie ihn retten.

Sie versuchen es innerhalb von Syrien, aber es ist nicht sicher. Deshalb entschließen sie sich, mit einem Auto zur türkischen Grenze zu fahren und zu Fuß in die Türkei zu fliehen. Zu dieser Zeit gibt es nachts keine Kontrollen. Die Kinder haben Angst, aber sie kommen ohne Probleme auf der anderen Seite an, wo sie von Freunden in Empfang genommen werden. Doch bei den Freunden können sie nicht bleiben. Es gibt keine Arbeit in der Gegend und schon gar nicht für kurdische Flüchtlinge. Istanbul! Dort sei es besser, sagt man ihnen.

Doch der Vater bekommt aufgrund einer körperlichen Einschränkung auch in Istanbul keine Arbeit. Die Mutter geht an sechs Tagen in der Woche in eine Fabrik, um zu nähen, von morgens bis abends. Das Geld, das sie nach Hause bringt, reicht nicht, und so müssen auch die älteren Kinder mitarbeiten. Der Schmuck wird allmählich verkauft.

Fatma geht mit in die Fabrik, sie will nicht allein zu Hause bleiben. Als der Besitzer sie sieht, bietet er der Mutter an, dass das Kind mitarbeiten kann. Für einen geringeren Lohn natürlich. Und das tut Fatma, jahrelang.

„Ich möchte so gerne einmal in eine Schule gehen, lernen, studieren – das ist mein großer Traum! Immer, wenn es fast so weit war, gab es Wichtigeres, musste ich arbeiten, um die Familie zu ernähren.“ Ihre Mutter hat mittlerweile ständig Rückenschmerzen, musste operiert werden, doch es hat nichts verbessert. Ihr Vater kann nie mehr arbeiten. Die älteren Geschwister sind verheiratet, ein Bruder im Krieg gestorben.

Während sie 2019 mit ihrem jüngsten Bruder nach Samos flüchtet, bleiben die Eltern in der Türkei, für sie wäre die gefährliche Reise über das Meer nicht machbar, sagt Fatma, und das Geld reichte auch nur für zwei. Seitdem ist sie auf der Insel, der Bruder ist weiter nach Deutschland, als er seine Reisedokumente erhält.

Ich frage sie, ob sie Samos mag. Sie antwortet, dass sie zwar seit über drei Jahren hier sei, aber nicht wirklich etwas gesehen hätte. „Ich wünschte, ich könnte einen Tag Touristin sein!“ Wir unternehmen Touren über die Insel, fahren zu kleinen Bergdörfern, kaufen Süßigkeiten in einem winzigen Supermarkt und schauen an einsamen Stränden aufs Meer. Fatma sagt, sie sei aufgeregt, hätte nicht gedacht, dass die Insel so schön sei. Wir machen Fotos und machen aus, dass wir bei jeder unserer Touren ein Foto mit uns und der griechischen Fahne machen. Einfach nur so und weil nicht immer alles einen Sinn haben muss.

Immer wieder erzählt Fatma von der Nacht, in der sie mit ihrem Bruder über das Meer gekommen ist. In einem kleinen Schlauchboot. Mit vielen anderen. Erwachsenen, Kindern. Vor allem an die Kinder erinnert sie sich gut, sie hätten immerzu geweint. „Wie lange seid Ihr unterwegs gewesen?“ Sie weiß es nicht mehr. Stunden sagt sie. Ob sie gewusst hätte, wohin sie unterwegs war. Nein, sagt sie, das hätten ihr erst die Polizisten nach ihrer Ankunft gesagt. Von Samos hätte sie vorher noch nichts gehört. Und ob sie in Europa angekommen sei, hätte sie auch nicht sofort gewusst.

Es sei so kalt gewesen auf dem Meer. Und schrecklich dunkel. Wie immer ist der Schlepper nicht mitgekommen. Wie immer kannte sich niemand aus, nicht mit dem Boot, nicht mit der Richtung. Jemand erinnert die anderen daran, dass sie niemanden anschauen dürften, wenn die Polizisten nach dem Bootsführer fragen. Der komme sonst ins Gefängnis.

Sie sagen noch am Strand angekommen: „No Pushback, please!“ Nein, sagen die Polizisten, heute kein Pushback. Sie frieren in den nassen Kleidern, haben Hunger und Durst. Müssen viele Stunden in der Polizeistation warten. Und werden dann in das alte Camp am Berg gebracht. Ein Elendslager und völlig überfüllt. Mit zusammengezimmerten Hütten, stinkenden Toiletten, ohne Strom und fließend Wasser. Im offiziellen Teil des Camps hinter dem Zaun ist längst kein Platz mehr. Irgendjemand nimmt sie in der ersten Nacht mit in seinem Verschlag auf. Am nächsten Tag kaufen sie ein kleines Zelt. Ob sie gewusst hätte, dass sie in das Lager müsse, frage ich Fatma. „Nein“, sagt sie, „das war ein Schock. Ein schlimmer Schock.“

Sie wisse nicht, wie sie durchgekommen seien. Es sei schrecklich gewesen, die Langeweile, die ständigen Streitigkeiten im Camp, Regenwasser im Zelt, Ungeziefer. Und es sei so kalt gewesen. Samos ist eine windige Insel.

Einmal seien viele Inselbewohner gekommen, den Berg hochgeklettert im Camp. Das war der Tag des großen Erdbebens im Herbst 2020. Und der Tag mit der Tsunami-Warnung. „Das war sicher der einzige Tag, an dem das alte Camp sicherer war als der Rest der Insel“, sagt Fatma lächelnd.

Al Jazeera kommt an einem Tag und interviewt die Menschen im Camp. Wir schauen uns den Film auf YouTube an. Fatma ruft die Namen derjenigen, die mit dem Journalisten sprechen. „Wir kannten uns alle gut“, sagt sie, „ich vermisse meine Freunde!“ Eine Familie ist mittlerweile in Deutschland, eine andere in Athen. „Ich möchte sie alle wiedersehen“, sagt Fatma. Alle ziehen weiter, Fatma ist noch hier.

„Ich vermisse meine Mutter so sehr“, sagt Fatma, „eine junge Frau sollte nicht ohne ihre Mutter sein“. Aber in die Türkei darf sie erst in mehr als zwei Jahren, vorher bekommt sie kein Visum. Auch wenn die Küste der Türkei jeden Tag zum Greifen nahe ist und täglich Touristen von der einen zur anderen Seite fahren. Fatma wird warten müssen. Auch wenn es Tage gibt, an denen sie nicht glaubt, dass sie das durchhält.

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