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Ich hätte nie gedacht, dass ich mit über 80 Jahren flüchten müsste

Text: Barbara Costanzo, Foto: Thomas Ratjen

Der Ukrainekrieg ist über ein Jahr alt. Mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine sind in Deutschland angekommen. Doch natürlich nicht nur in Deutschland. Auch auf der Insel Samos gibt es ukrainische Flüchtlinge und sie werden von Uschi Wohlgefahrt und Space-Eye Hellas unterstützt.

Der 84-jährige Oleg hatte in seiner Heimat viele Berufe und ist ein Multitalent. Er arbeitete als Fotograf, hatte eine Schusterwerkstatt und war Handwerker. Seine großen Hobbys sind das Angeln und sein Garten. Gemeinsam mit seiner Frau Maria floh er 2022 aus der Ukraine. Sie kommen aus einer der Städte, die die meisten von uns erst durch die Medien und im Zusammenhang mit Kriegsereignissen kennengelernt haben. Oleg, der sich und seine Familie sein Leben lang selbst versorgen konnte und der im Alter eine gesicherte Pension hatte, ist nun auf Hilfe angewiesen. Er zeigt uns Fotos von seinen vielen Angelausflügen, seinem Haus, dem großen Garten. „Das war früher“, sagt er, „das war zu Hause.“

Uschi Wohlgefahrt nahm die Familie ins Housing-Projekt von Space-Eye Hellas auf und organisierte ihnen, die obdachlos zu werden drohten, eine kleine Wohnung. Oleg sagt als einen der ersten Sätze: „Ich muss hier sein, aber mein Herz schlägt in der Ukraine. Und ich bin dankbar, dass uns geholfen wird.“

Und das Ehepaar ist nicht das Einzige, das nach Samos gekommen ist. Sicher nicht eines der naheliegendsten Ziele für ukrainische Flüchtlinge und doch hat jede Familie, die hierhergekommen ist, einen eigenen Grund. Bei Oleg und Maria ist es die Tochter, die jahrelang mit der Familie Urlaub auf der Insel gemacht hat und hier Freunde gefunden hatte. Urlaub – damals vor dem Krieg.

Wie auch in Deutschland, bleibt ukrainischen Flüchtlingen einiges erspart: die gefährliche Flucht über das Mittelmeer, das Camp, ein Asylantrag, das lange Warten auf Papiere. Doch genau wie alle anderen Flüchtlinge erhalten sie vom Staat in Griechenland keine Unterstützung – weder Unterkunft noch finanzielle Hilfe. Deshalb ist Space-Eye Hellas hier auf Samos und in Athen in den Housing-Projekten so wichtig. Und auch, weil das Projekt viel mehr ist als finanzielle Unterstützung – die regelmäßigen „Hausbesuche“ erleichtern die Einsamkeit einzugrenzen, in einem fremden Land, mit einer Sprache, die sie nicht verstehen und die auch nicht leicht zu erlernen ist. Zumal es keine Sprachkurse oder andere Integrationsmaßnahmen gibt und auch keine andere NGO, die sich auf Samos um ukrainische Flüchtlinge kümmert.

Die beiden wohnen nun in einem günstigen kleinen Haus in einem Dorf im Hinterland. Hier geht es ruhig zu, es gibt drei Tavernen, eine Bäckerei, keine Straßennamen oder Hausnummern. Sie haben Kontakt mit den Nachbarn, aber die Sprachbarriere ist ein Hindernis. Oleg und Maria sprechen nur Ukrainisch, doch das spricht hier sonst niemand. Wenn wir sie besuchen, haben sie immer etwas vorbereitet: Kekse, Tee, manchmal ukrainische Teigtaschen. Sie wirken etwas verloren, sprechen immerzu, auch dann, wenn es uns nicht gelungen ist, eine Dolmetscherin mitzubringen. Wir verstehen nur wenige Brocken. Putin, Bomben. Oleg verfolgt ununterbrochen die Nachrichten aus der Ukraine.

An einem Nachmittag im März unternehmen wir mit ihnen und einer alleinerziehenden, ukrainischen Mutter mit zwei Kindern, die auch seit einem Jahr auf Samos lebt, einen Ausflug an einen abgelegenen Strand. Wir sind außerhalb der Touristensaison und ganz allein an diesem im Sommer bestimmt sehr beliebten Fleckchen. Im Wasser bewegt sich eine Schaukel. Die einzige Strandtaverne weit und breit ist noch wochenlang nicht geöffnet. Wir verbringen einen schönen Nachmittag, haben ein Picknick mitgebracht, spielen mit den Kindern im Sand. Oleg und Maria sind still, als wir uns nach einem Kaffee zurück in Samos-Stadt zum Abschluss des Nachmittags verabschieden.

Wochen später erhalten wir eine Nachricht. Oleg und Maria haben sich entschieden, wieder zurück in die Ukraine zu gehen. Wir besuchen sie, um uns zu verabschieden. Nein, sagen sie, einen offenen Flughafen gibt es in der Ukraine nicht. Sie werden mit dem Schiff fahren und dann mit dem Bus. Zwei Tage werden sie unterwegs sein, bis sie ihr Haus wiedersehen. Ob sie wirklich überzeugt sind von der Rückreise und einem besseren Leben zu Hause? Wir stellen die Frage nicht, doch Oleg beantwortet sie trotzdem: „Wenn es gar nicht geht, können wir einfach zurückkommen. Die Ukraine ist doch unsere Heimat und wir sind zu alt, um allzu lange fortzusein!“

Mit zwei Koffern sind sie gekommen, mit zwei Koffern gehen sie wieder zurück. Als wir zu unserem Auto gehen, sind wir nachdenklich. Was werden die beiden wohl vorfinden an dem Ort, den sie vor einem Jahr verlassen haben?

Space-Eye hat ein Video Ende 2022 mit Familien aus der Ukraine, die unterstützt werden, veröffentlicht. Maria und Oleg sind auch darauf zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=6JZj80SYDH4&t=5s

Das Projekt darf nicht enden! Sie möchten Space-Eye Hellas unterstützen?
https://space-eye.org/hellas