Geschichten vom Rande Europas:
Im „Khalifi“ von Samos
Von Ursula Wohlgefahrt
Durch Anwohner bin ich auf die Vettern Mohammed und Naim gestossen, zwei junge Männer aus dem Gaza-Streifen. Sie leben hier mit Mustafa aus Bagdad. Mohammed und Naim sind seit längerer Zeit bereits anerkannte Flüchtlinge und mussten schon im letzten Sommer das Camp verlassen. Mustafa ist mit ihnen ins „Khalifi“ gezogen, weil sie schon im Camp Freunde wurden.
Das „Khalifi“ am Rande von Samos. Hier müssen die drei Geflüchteten Naim, Mohammed und Mustafa leben (Fotos: Ursula Wohlgefahrt)
Das Khalifi, ein altes Sommerhaus, wo sich die Griechen bei der Ernte zum Mittagsschlaf zurück ziehen, wurde seit Jahren nicht unterhalten. Es liegt unmittelbar hinter der letzten Häuserzeile am Stadtrand von Samos und hinter dem Einfamilienhaus des Eigentümers in dessen Obstgarten, umgeben von Orangen- und Zitronenbäumen. Mit Plastik haben die jungen Männer notdürftig das Dach und innen die Decke abgedichtet. Das Regenwasser kommt gleichwohl durch alle Ritzen ins Haus. Heizung und Strom gibt es dort nicht. Vor dem Haus ist eine Feuerstelle und ein Wasseranschluss, wo sie jahrein und -aus unter freiem Himmel die Kleider und sich selbst waschen. Wohnen dürfen sie dort gegen Arbeit. Bei jeder Gelegenheit lässt der Eigentümer eine Glocke läuten, und dann muss einer sofort springen und dem Eigentümer für alle möglichen Sachen zu Diensten sein.
Ist gerade keiner im Khalifi, droht der Eigentümer, dass sie das Haus rasch möglichst verlassen müssten. Aber wohin sollten sie denn gehen? Geld haben sie keines, und sie können auch keines von ihren Familien im Gaza, oder in Bagdad verlangen. Sie können ihnen einfach nicht sagen, oder schreiben, wie schlecht es ihnen geht. Ihre Träume, in die Mitte oder in den Norden von Europa zu kommen, haben sie noch nicht verloren. Daran hängen sie immer noch, aber wie ihnen dies in ihrer ausweglos scheinenden Situation gelingen soll, wissen sie nicht. Ihre Sehnsucht hängt in ihren Heimatländern. Ja, wenn sie gewusst hätten, was sie da auf sich laden: Sie hätten einiges anders gemacht.
Mustafa, Naim und Mohammed in ihrer Behausung
Angefangen hat das ganze Drama mit Naim. Naim hat sich vor drei Jahren entschieden, dass der Gazastreifen für ihn keine Zukunft hat und viel zu gefährlich ist. Er hat kurzerhand von seinem großen Familienclan Abschied genommen und ist via Kairo mit dem Flugzeug nach Kiew in die Ukraine gereist, wo er als gelernter Damen- und Herrenfriseur für 300 Euro gearbeitet hat. Die Miete hat ihm schon die Hälfte weggefressen. Nach anderthalb Jahren in der Ukraine hat er sich wieder auf den Weg gemacht und ist in die Türkei. Auch dort hat er sich mit seinem Beruf kaum über Wasser halten können.
Für ihn war dann der grosse Traum: EUROPA, denn in Europa müsse ja alles viel besser sein. Als er das Geld für die Schlepper zusammen hatte, hat er in Izmir ein Boot bestiegen und ist auf Lesbos gelandet. Im Flüchtlingscamp von Moria geriet er in eine Schlägerei mit einer afghanischen Gruppe. Dabei sind einige Messerstiche und Narben übrig geblieben. In Lesbos erhielt er schließlich Asyl. Wie dreckig es ihm dort erging, konnte er nicht nach Hause schreiben. Er hat immer nur beste Meldungen abgesetzt: „Macht Euch keine Sorgen, mir gehts super. Bald geht’s weiter. Es ist herrlich hier“. Seine positiven Meldungen haben dann seinen Vetter Mohammed dazu bewogen, ihm zu folgen. Er ist wie Naim über den Flughafen Kairo ausgeflogen, jedoch direkt nach Istanbul und dann weiter mit dem Bus nach Izmir.
Mohammed hat es mehrere Male versuchen müssen, um mit einem Schlauchboot nach Europa rüber zu gelangen. Bei jedem Versuch musste er den Schleppern 1.200 Euro abgeben. Schließlich hat es doch noch geklappt: Der Wind trug das Schlauchboot jedoch nicht nach Lesbos zu seinem Vetter, sondern nach Samos. Oder hatte er es falsch verstanden, was der Schlepper erzählte? Vor zwei Jahren ist er hier gelandet und hat nichts von Freiheit und Wohlstand erfahren: bittere Armut, Entbehrungen, Mücken im Sommer und Kälte im Winter. Seit letztem Sommer ist nun auch er ein anerkannter Flüchtling. Naim ist von Lesbos mit der Fähre zu ihm gekommen. Er konnte seinen Vetter nicht alleine lassen. Er schämt sich zutiefst, dass er Mohammed da mit rein gerissen hat, aber er konnte seiner Familie einfach nicht erzählen, wie schlecht es ihm geht. Nun geht es zwei Familienmitgliedern schlecht. Ja, wenn er nur zurück könnte, meinte Naim. Aber dies sei ganz und gar unmöglich, nur schon wegen der Polizei und überhaupt. Nein, zurück könnten sie auf keinen Fall. Es müsse einfach vorwärts weiter gehen, aber ohne Geld wissen beide nicht, wie das gehen soll.
Mustafa, der Fliesenleger aus Bagdad, schlürft seinen Tee: Nein, auch er könnte nicht nach Bagdad zurück. Vor dem Sturz von Saddam hätten sie doch keine Probleme gehabt, die Schiiten und die Sunniten. Nun sei es für ihn als Sunnit unmöglich geworden, dort zu leben. Der Hass sei dermaßen hochgekocht. Bagdad, ja Bagdad vermisse er sehr: seine Gassen, die Märkte und besonders die Familie.
Inschallah, komme alles gut, inschallah.
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