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Einmal Bihać und zurück

 

Von Beatrix Szabo (Text) und Thomas Ratjen (Fotos)

„Der Reisepass ist abgelaufen!“ Mist, ein schöner Beginn der Reise nach Bosnien. Thomas, der Fotograf, und ich fahren für Space-Eye einen Lieferwagen voller Hilfsgüter nach Bihac. Freitagmorgen um 3.00 Uhr geht’s los. Mit ungültigem Reisepass.

Seit Monaten sortiert und packt das Team von Space-Eye mit vielen ehrenamtlichen Helfern in der Gerner-Halle im Regensburger Hafenviertel Kleidung und Hygieneartikel für Geflüchtete auf den griechischen Inseln und in Bosnien. Gut gerüstet mit Kaffee, Stullen und unserem Corona-Test geht es los.

Vor der Gerner-Halle in Regensburg wird der Sprinter mit Hilfsgütern für Bosnien beladen.

Als wir in Österreich ankommen, sortiere ich uns falsch in die Lkw-Spur ein. Der Grenzer schnauzt mich an: „Sans an öLkw?“ Seine Körperhaltung spricht Bände. Ich bemühe mich um Freundlichkeit und versuche, ihn mit meinem Charme zu beruhigen. „Fahns zruck“ brüllt er. Ich sortiere uns neu ein, und bald rollt unser Sprinter weiter dem Ziel entgegen, noch 550 km.

Um 9.00 Uhr begrüßen uns Kühe auf kahlen Weiden und ein leeres Casino-Hotel an der slowenischen Grenze. Kurz danach säumen sozialistische Prachtbauten unseren Weg durch Karlovac in Kroatien. Menschen ohne Maske auf den Straßen. Hin und wieder zeigt uns die Stadt zerschossene Häuser wie Wunden. Der Krieg liegt gerade mal 25 Jahre zurück. Wir sprechen über Krieg und Flucht und die körperlichen und nicht minder schweren seelischen Verletzungen für Soldaten und Zivilisten. Wir erinnern uns, dass aus den ehemals deutschen Ostgebieten in den ersten Nachkriegsjahren rund 14 Millionen Menschen nach Deutschland kamen. Fremde, Landarbeiter, Handwerker, Gutsbesitzer, Männer, Frauen, Kinder mit schrecklichen Fluchterlebnissen. Damals musste jede Familie, die über eine intakte Wohnung verfügte, eine oder mehrere Familien aufnehmen. Die Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland war arm, der Hungerwinter 1946 forderte viele Menschenleben. Bei aller existenzieller Not gelang die Integration der „Habenichtse“. Lag das „nur“ an der gemeinsamen Sprache?

Um 12 Uhr, nach neun Stunden Fahrt, erreichen wir die bosnische Grenze, nur noch eine halbe Stunde bis zum Ziel. Bihać und das Camp Lipa liegen im äußersten Nordwesten Bosniens nahe der Grenze zu Kroatien. Insgesamt leben 61.000 Menschen in der Gemeinde und der Stadt. Nun gilt es, die Zoll-Abfertigung in ein Nicht-EU-Land zu managen. Und da kommt neben allen Papieren, die wir zu zeigen haben, auch die Sorge, ob ich ohne Reisepass überhaupt einreisen darf. Umliegende Unterkünfte für den schlimmsten Fall sind schon eruiert.

Wir reihen uns ein, diesmal sind wir definitiv „Lkw-Fahrer“. Hunde lungern vor den anstehenden Lkws, auch unserem Sprinter. Ein Fahrer wirft gekochten Schinken aus seinem Fenster. Die Reihe wird länger, die Hunde mehr. Unser Kastenwagen, prall gefüllt mit nach Größen sortierter Männerkleidung (Dank an Uschi und Gabi!), muss auf die Waage. Endlich dürfen wir nach einer weiteren Kontrolle rein zum Zoll.

Und da sitzt Elvira, blond, grell rosa gestylte Fingernägel, brennende Kippe auf der Untertasse ihres ausgetrunkenen Kaffees. Zu viert und maskenlos sitzt sie mit Kollegen in einem Kabuff, eingehüllt in Zigarettennebel. Freundlich vermittelt uns Elvira mit ihrem Google-Übersetzer, dass wir mindestens zwei Stunden warten müssen. „Ihr könnt morgen nochmal kommen“, so ihr Übersetzungsgenie. Wiederkommen wollen wir nicht, „Coffee there“ im Flur gibt es ein Café. Hier lassen wir uns nieder unter einer nikotinverfärbten Zimmerdecke, um uns entspannendes Gemurmel, dunkle Stimmen. Ab und zu faucht die Kaffeemaschine. So lässt sich bis in die Ewigkeit warten, die Zeit steht still. Der Reisepass? Ein Problem von damals, wie lange ist das her?

Die Stones spielen im Radio, ich verstehe den Text nicht. Aber Thomas erinnert sich an Prag, direkt nach der Grenzöffnung: „Da spielten Musiker auf der Straße mit selbstgebauten Instrumenten Stücke der Stones“. Wir reden über Zeiten, in denen noch in jeder Versammlung, in jeder Kneipe geraucht wurde und das Leben irgendwie noch langsamer war. Es ist 17.30 Uhr. Ich entschließe mich, ein wenig Dampf zu machen, erinnere Elvira an unsere Anwesenheit. Sie reicht mir den Telefonhörer „es dauert bis zu zwei Stunden. Gehen Sie ins Café“ werde ich auf deutsch informiert. Nach Erklärung und Widerspruch kommt etwas in Bewegung. Wir dürfen jetzt mit Elvira und den Papieren rausgehen und die Zollabwicklung abschließen.

Elvira erzählt uns dabei in Bröckel-Englisch von ihren Kindern, die beide studiert haben und in Bosnien keine Arbeit finden. Sie selbst arbeitet von morgens früh bis tief in die Nacht. Endlich dürfen wir fahren, gut geräuchert verlassen wir den Zoll. Alles Gute, Elvira!

In Bihać angekommen, treffen wir Irina, die für Space-Eye nach Bihac gekommen ist und seit einem Monat vor Ort SOS Bihac unterstützt. Im Restaurant besprechen wir die Situation bei gebratenen Pilzen und gegrillten Tintenfischen. Das erste warme Essen nach 17 Stunden weckt die Lebensgeister. Der Duft des Essens wird vom Zigarettenrauch erstickt. Ein Dreikäsehoch stibitzt uns Pommes vom Teller. Die Live-Musik lädt zum Tanzen ein. Bosnische Tänze werden aber aufgrund von Corona zur Zeit nicht getanzt. „Wenn Du das nächste Mal kommst, dann tanzen wir“, verspricht mir der Wirt.

Am nächsten Morgen treffen wir Zlatan Kovacevic, den Gründer von SOS Bihac, einen Teil seines Teams, und Helfer, die so wie wir aus Deutschland mit Autos voll Waren kommen.

Zlatan Kovacevic (2. von rechts) instruiert das Team

Zlatan erzählt von seiner Arbeit mit den Geflüchteten, aber auch von der Not vieler Menschen, die hier leben. Denn Bosnien ist ein armes Land, das durch die Corona-Krise zusätzlich belastet ist.

„Wenn irgendwo jemand hier in Bihać Not leidet, dann kommt Zlatan. Er ist nicht nur für die Flüchtlinge da,“ sagt eine Bihaćerin zu uns. Zlatan berichtet aber auch über die Schwierigkeiten, Spenden zu koordinieren: „Da kommt ein Bus unangemeldet voll mit Brot, das wir nicht lagern können, oder mit teilweise kaputten Kleidern. Wir können das hier nicht sortieren.“ Ja, das haben wir zu Hause in „unserer“ Gerner-Halle auch erlebt: Zerrissene, unbrauchbare Perlonstrumpfhosen, Strasskleidchen, Karnevalkostüme, hochhackige Schuhe. Die Scham der „mitfühlenden“ Kellerausräumer scheint keine Grenzen zu kennen, die Würde des Menschen ist jederzeit antastbar.

Aber zurück zu Zlatan, der von sich selbst sagt: „Ich habe die Flüchtlinge früher nicht als Menschen gesehen.“ Heute ist er rund um die Uhr für sie im Einsatz. „Es gibt immer wieder auch Leute, die lassen sich hier wie Touristen fotografieren, sind auf Sensationen aus, aber helfen tun sie nicht.“ Für ihn sind die Menschen wichtig, alle. „Viele Hilfsorganisationen verlassen das Lager, jetzt müssen wir zum Beispiel die medizinische Versorgung übernehmen“. SOS Bihac versorgt ursprünglich die Geflüchteten nach den illegalen Push-Backs aus Kroatien mit Kleidung, Nahrung und Zelten. „Manches Mal bin ich aber auch wie ein Psychologe. Da lag einer nach einem Push-Back schwer verletzt, die Zähne ausgeschlagen am Boden und wollte nicht mehr aufstehen, nicht essen und trinken. Ich rede mit ihm, und dann nimmt er das Essen, und wir können ihn weiter zur medizinischen Versorgung bringen,“ sagt Zlatan. Inzwischen ist der Sprinter im Warehouse ausgeladen.

Beatrix und ein Helfer von SOS Bihac Entladen den Sprinter mit den Hilfslieferungen von Space-Eye

Zlatan lädt uns ein, uns ein Bild vom Lager Lipa zu machen. Er und sein Team bringen Kleidung, Decken und Hygieneartikel nach Lipa. Der Weg zum 25 Kilometer entfernten Lager führt durch Wälder in die Einöde. Jede Ein- und Ausfahrt von Helfern ins Lager wird streng kontrolliert. 900 Männer „leben“ hier, ohne fließendes Wasser, der Strom ist nur notdürftig verlegt, immerhin verteilt das Rote Kreuz warmes Essen. Zur Zeit muss im Camp alles desinfiziert werden, wegen der desaströsen hygienischen Bedingungen ist die Krätze ist ausgebrochen. Die Männer stehen in Reihen, warten auf ihre Behandlung und die neue Kleidung. Wir entladen die Autos. Wir reden mit Tarik und ein paar anderen Männern. Nermin führt uns durch das Camp. Trotz der Anwesenheit von 900 Menschen, ist es still. Viele sitzen vor den Zelten, reden, schauen, manche lächeln. Was haben diese Augen alles gesehen, diese Körper erduldet?

Die meisten von ihnen sind rund 6.000 km von Pakistan oder Afghanistan nach Bosnien gekommen. „Oft wissen sie nicht, dass es das Lager gibt und sind irgendwo in den Wäldern, wo wir sie auch versorgen oder hierher bringen.“ „Papa, I need shoes in 44“, bittet einer Männer Nermin.  Er wird sie in den nächsten Tagen erhalten, Nermin ist sozusagen der Quartiermeister. In der Krankenstation angekommen, sehen wir dort einen Mann am Tropf liegen. Einem anderen wird ein Geschwür am Kopf gereinigt. Es herrscht eine freundlich, konzentrierte Atmosphäre in diesem notdürftig umgebauten Container. Eine Volontärin vor Ort berichtet, dass einige NGOs Lipa verlassen haben. „Es gab eine, die haben auch mal einen Filmabend organisiert. Aber die sind auch weg“. Was bleibt den Männern im Camp? Nur die Hoffnung auf ein Europa, das sich auf seine wahren Werte besinnt. Und SOS Bihac.

16:00 Uhr, Zeit für die Rückfahrt, sonst gilt unser Corona-Test nicht mehr. Wir schweigen, versuchen, unsere Eindrücke zu verarbeiten. Im Radio läuft ein Bericht über Turbulenzen an den Börsen, weil Kleinanleger Kurse durcheinanderbringen. Man sollte die Börsen regulieren, die „Märkte schützen“. Wer schützt die Menschen? Regensburg erreichen wir am Sonntagnacht um 1.00 Uhr.

Nach dem Aufwachen weine ich.

Tarik

Tarik (Name geändert) erhält eines der gebrauchten Smartphones aus dem Hilfstransport von Space-Eye. Er erzählt uns seine Geschichte. In seinem Heimatland war er als Kind von drei Jahren durch einen Brandunfall schwer verletzt worden. Er verlor die Finger der rechten Hand, an der anderen Hand blieben seine Finger verkrüppelt zurück. Er hofft auf handchirurgische Versorgung, wenn es ihm gelingt nach Europa zu kommen. Sein Weg führte ihn über die Türkei, wo er in einer Großnäherei ohne Arbeitsschutz unter extrem belastenden Bedingungen arbeitete. Trotz seiner verkrüppelten Hände habe er täglich mehrere hundert Jeanshosen genäht und Arbeitszeiten von 14 – 16 Stunden ohne freie Wochentage gehabt. Über die Berge war er zu Fuß nach Bosnien gekommen. Im Camp Lipa harrt er nun bereits seit acht Monaten aus. Aus Tariks Blick sprechen Intelligenz und Lebendigkeit, die aber wie unter einem verdunkelten Glas verborgen scheinen. Aus seinem Wesen sprechen große Wärme und und eine freundliche Verschmitztheit, die er offenbar auch durch Flucht und die extreme Lebenssituation im Lager als menschliche Qualitäten retten konnte.

Jahid

Jahid (Name geändert) begleitet Tarik und bestätigt seine Erzählung. Auch er war zu Fuß über die Berge nach Bosnien Herzegowina gekommen. Einen Schlepper zu bezahlen für eine Fahrt im Auto hätte über 3000 Euro gekostet und sei zu teuer für ihn gewesen. Deshalb wählte er den wochenlangen und sehr anstrengenden und gefährlichen Weg zu Fuß. Jahid fällt durch seine zugewandte Haltung und angenehme Präsenz auf, gleichzeitig wirkt er angespannt und immer wieder richtet sich sein Blick wie abwesend in die Ferne. Seine im Gespräch weichen Gesichtszüge nehmen dann einen Ausdruck von Resignation und Härte an.

Amir

Amir (Name geändert) packt freiwillig beim Ausladen der Hilfsgüter von SOS Bihac mit an. In der Begegnung merkt man sofort, dass man einen engagierten und gebildeten Menschen vor sich hat. Amir kommt aus Afghanistan, auch er möchte weiter nach Europa. Seine Augen wirken müde, nur mit Anstrengung hält er sich aufrecht. In Deutschland gebe es doch wohl keine Arbeitslosigkeit, fragt er mich voller Hoffnung. Alle hätten doch Arbeit und dürften auch arbeiten? Sein Ziel sei es, zu arbeiten, sein Wissen und seine Fähigkeiten einzubringen und von seiner Arbeit gut zu leben. Beim Zuhören begreife ich, dass diese Hoffnung sein „Leuchtfeuer“ ist, seine Vision, die ihn auch in der verzweifelten Realität des Lagers Lipa am Leben erhält.

Aufgeschrieben von Thomas Ratjen

Beatrix Szabo ist Heilpraktikerin aus Regensburg  und arbeitet ehrenamtlich für Space-Eye. (https://www.homoeopathie-regensburg.de/home/)
Foto: Juliane Zitzelberger)

Thomas Ratjen aus Landshut ist Medienfotograf. Für Space-Eye fotografiert und filmt er Menschen und Aktionen (https://www.ratjenphoto.com/)