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Von Ursula Wohlgefahrt

Die Nähmaschine schnurrt. Marwa flickt und ändert die Kleider der Kinder ihrer Wohnpartnerin. Sie hat mit ihr und ihren fünf Kindern zusammen im November 2020 die zweite Wohnung von Space-Eye bezogen. Im Camp in Samos hatte sie ein Zelt, das bis zu drei Personen aufnehmen konnte. Sie lebte dort alleine, bis Safa mit ihren 5 Kindern von der Campleitung gebeten wurde, den Wohncontainer und das Camp zu verlassen. Die 58-jährige Marwa aus Badgad hatte Safa und ihre Kinder notdürftig bei sich aufgenommen. Wie die Sardinen haben sie gehaust und geschlafen. Als Safa dann von Space- Eye eine Wohnung bekam, war es für sie Ehrensache, Marwa mit in ihre Wohnung zu nehmen.

Beim Handarbeiten und Nähen vergisst Marwa ihr Schicksal für ein paar Minuten. Da ist sie mit voller Konzentration an der Arbeit. Für die Erzählung Ihrer Geschichte unterbricht sie die Näharbeit. Ja, sie wolle mir ihre Lebensgeschichte erzählen:

„Als die Amerikaner kamen und in Bagdad einzogen, haben wir gejubelt. Wir hofften, dass wir bald auch so wie die Menschen im Westen leben und arbeiten könnten. Mein Leben änderte sich dramatisch, als die Milizen meinen Sohn bedrohten. Hassan war Schauspieler am städtischen Theater und hatte, wie ich, Kunst und Theater studiert. Hier schau mal die Fotos von seinen Auftritten, Uschi! Im Gegenzug zu mir, fand er in Bagdad eine Anstellung. Ich habe seinerzeit keine gefunden und habe als Notlösung bei der irakischen Nationalbank als Kassiererin gearbeitet. Nach der Heirat habe ich aufgehört zu arbeiten und meine Mutter erkrankte. Ich habe sie bis zu ihrem Tod gepflegt und erst danach den Irak verlassen. Ein Jahr nach der Heirat ist Hassan geboren, ein Wunschkind. Sein Vater war Soldat im irakischen Geheimdienst. Als Hassan zwei Jahre alt war, habe ich die Nachricht erhalten, dass er im Dienst gestorben sei. Seitdem war ich alleine geblieben mit meinem Sohn und meiner Mutter. Mit Nähen und Handarbeiten habe ich von zu Hause aus uns über Wasser gehalten. Nähen habe ich von der Mutter gelernt, und dies konnte ich auch bei meinem Studium immer wieder unter Beweis stellen zur Anfertigung der verschiedenen Kleider.

Als die Milizen Hassan mit dem Leben bedrohten, falls er nicht seinen Beruf aufgeben würde, sich einen ordentlichen Bart wachsen ließe und orientalische Männerkleider trüge, hat er es in Bagdad nicht mehr ausgehalten und ist mit seiner Familie nach Skandinavien geflohen. Die Milizen haben auch mich bedroht, weil Hassan nun fort war. Ich konnte aber meine betagte und pflegebedürftige Mutter nicht alleine zurücklassen und so bin ich geblieben, bis sie verstarb. Dann floh ich nach Syrien, wo ich vier Jahre blieb und als Managerin in einem Frauenfitnesszentrum tätig war. In Syrien wäre ich geblieben. Es ist ja meine Kultur. Die Bomben der Israelis haben mich dann – wohl oder übel – nochmals zur Flucht gezwungen. So bin ich schlussendlich am 15.8.2019 nach Samos gekommen. Ich erlebte im Camp Tage und Nächte mit Lebensbedingungen, die ich nie erwartet hätte. Die Angst bei der Feuersbrunst steckt mir immer noch in den Knochen. Auch das Miterleben müssen, dass Zeltnachbarn sterben, und niemand will helfen können. Der Mangel an allem, was für uns so normal ist, bedrückt mich noch heute zutiefst.

Mein großer Wunsch ist, nach Skandinavien zu meinem Sohn und seiner Familie zu gelangen. Ich habe ja nur noch ihn und seine Familie. Aber die Hürden dorthin sind hoch, und mein Sohn und die Familie haben bis heute noch keine feste Aufenthaltsbewilligung erhalten. Die jüngste Enkelin habe ich noch gar nicht in die Arme schließen können, nur per Internet kann ich ihr einen Kuss senden.

Ich danke allen Spendern von Space-Eye, die mir nun ein paar menschliche Monate in einer bescheidenen Wohnung gewähren von ganzem Herzen. Ich danke auch Space-Eye für all ihre Anstrengungen für die Flüchtlinge auf Samos herzlichst. Ihr seid wunderbar.“

Ein Strahlen geht über Ihr Gesicht. Dann nimmt sie ihre Näharbeit wieder auf und kürzt noch ein weiteres Hosenbein.

„Uschi“

Ursula Wohlgefahrt lebt auf Samos und kümmert sich „hauptamtlich“ um gestrandete Flüchtlinge – Menschen, die zwar eine Anerkennung als Asylberechtigte haben, aber kein Geld, keine Unterkunft und keine Ausreisepapiere. Für Space-Eye betreibt „Uschi“ auf Samos ein Housing-Project, das inzwischen rund 90 Menschen Unterkunft bietet.